Aus der Kritik |
Seit Platon ist die Höhle ein philosophischer Ort, der aber nicht nur Philosophie und Theologie, sondern auch Dichtung, bildende Kunst und Theater des Abendlandes tiefgreifend geprägt hat. Immer wieder – schon in der Antike – ist die Höhle mit dem Mutterleib verglichen worden, aus dem wir vom Dunkel ins Licht gelangen. „Höhle also, und wieder Höhle, wo immer das Menschsein vom Denker und Dichter gründlich erwogen wurde“, schreibt Max Kommerell in seinem Buch über Calderón, in dessen Schauspielen die Höhle in der Tat eine unermessliche Rolle spielt, zumal in seinem berühmtesten Stück „Das Leben ein Traum“. Der Thronfolger Sigismund wächst da in einem als Höhle gestalteten Turm auf und durchlebt, aus ihm befreit, den von tiefen Irritationen begleiteten Kursus vom Schein zum Sein, der uns aus dem Gleichnis im siebten Buch des platonischen „Staats“ vertraut ist – nun freilich in christlicher Metamorphose. Und eben diese hat das Höhlengleichnis schon seit frühchristlicher Zeit erfahren.
Nicht nur ein Höhlengleichnis gibt es nämlich, sondern aus Antike und Frühmittelalter sind uns sieben Variationen überliefert, darunter eine von Papst Gregor dem Großen aus dem sechsten Jahrhundert. Ihnen geht Wilhelm Blum in einer konzentrierten Studie nach. Sie enthält die griechischen und lateinischen Originaltexte, deren Übersetzungen, einen sorgfältigen und doch leserfreundlichen Kommentar und schließlich eine knappe Geschichte dieses Urbildes von Empedokles, den Plotin als Erfinder des Gleichnisses bezeichnet hat, bis zu Pirandello und Dürrenmatt, der es dezidiert auf den Kopf stellt.
Faszinierend zumal die Ausführungen über Kaspar Hauser, den die Zeitgenossen gewissermaßen im Lichte des Höhlengleichnisses gesehen haben, eine Lesart, die sich schon in der Version des Arnobius aus dem 3. Jahrhundert nach Christus vorbereitet. Dort ist bereits der Weg eines jungen Menschen vorgezeichnet, der in einer Erdhöhle ohne Licht und Laut von außen aufwächst und nun in die Welt geworfen wird, die ihm ein großes Rätsel ist.
Sehr viel wird dem Leser hier für wenig Geld auf gut hundertzwanzig Seiten geboten, und so sollte er nicht undankbar meckern, wenn er einiges aus der Wirkungsgeschichte des Gleichnisses vermisst, etwa einen Abschnitt über Calderón, den Höhlenallegoriker par excellence, oder über Jean Pauls „Unsichtbare Loge“, wo ein Knabe in einer „Platos-Höhle“ einem „unterirdischen Pädagogium“ ausgesetzt wird und schließlich seine „Auferstehung“ erlebt.
Blum möchte nicht konkurrieren mit Konrad Gaisers grundlegendem (italienischem) Buch über die Geschichte des Höhlengleichnisses von 1985. Er beschränkt sich auf exemplarische Stationen dieser Geschichte, und sie leuchten bei ihm in wohltuender Klarheit auf. Besonders fesselnd, wie er das platonische Höhlengleichnis nicht nur aus seinem unmittelbaren Textzusammenhang heraus interpretiert, sondern schon den Dialog „Phaidon“ in seinem Lichte deutet: die Gefängniszelle des Sokrates als „vorweggenommene Höhle aus dem siebten Buch der Politeia“, in die – wie am Ende des Gleichnisses – der aus dem Licht der Wahrheit in das Dunkel der Höhle Zurückgekehrte von den in ihrer Schatten- und Scheinwelt Gebliebenen umgebracht wird.
Mancher heidnisch gesinnte Altphilologe mag Wilhelm Blum die christliche Färbung seines Buches verübeln, denn für ihn ist der tiefgründigste Gestalter des Höhlengleichnisses nicht Platon, sondern Gregor von Nyssa aus dem vierten Jahrhundert, bei dem der Aufstieg aus der Höhle zum Bild der Transzendenz in ihrem aktiven Vollzug wird, als das Überschreiten der Grenzen der immanenten Welt. Blum, der noch dem aussterbenden Geschlecht der gelehrten Gymnasiallehrer angehört – er wirkt am prominenten Münchener Max-Gymnasium – kommt seine lange didaktische Erfahrung zugute, ohne dass er der déformation professionelle des Schulmeisters – Pedanterie und Besserwisserei verfällt.
Man möchte wünschen, dass Blum die Gedankenlinien seines Büchleins weiterspinnt, denn das Höhlengleichnis hat ungemeine Aktualität gewonnen. Es fehlt uns noch eine Variation für das Medienzeitalter. Leben wir denn nicht wie Platons Höhlenmenschen in einer Welt neuer mediengezeugter Scheinbilder, nehmen wir nicht in unseren Fernseh-Höhlen die Wirklichkeit nur so wahr, wie sie uns auf der Mattscheibe erscheint – ist nicht, mit Baudrillard zu reden, das „Simulakrum“ der Angelpunkt unserer Welterfahrung?
Dieter Borchmeyer in der „Süddeutschen Zeitung“ (20.5.2005)
In diesem ausgezeichneten Band wird ein zentrales Thema des Griechischunterrichts wie der europäischen Geistesgeschichte überhaupt mit großer Sachkenntnis und Tiefe dargestellt. Breiten Raum nimmt dabei auch die Wirkungsgeschichte ein, die von Aristoteles über Descartes bis hin zum Anti-Höhlengleichnis Dürrenmatts reicht.
Literaturhinweis des „Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung“
Erat autem optima cogitatio auctoris, qua tales «parabolas specus» collegit, exhibuit, inter se, comparavit et explicuit. Plurima scitu dignissima percipiuntur et discuntur. Libro lecto desiderium exoritur - quod mea quidum sententia est magna laus -, qou in quasdam quaestiones fusius incumbere, quasdam cogitationes magis sequi, alia exempla invenire velis. Est ergo liber vere attractivus, scitu dignus et optime legibilis, quo lectoribus lectricibusque plurima instigamenta praebenture.
Sigrides Albert in „Vox Latina“ (41/Dezember 2005)
Das Werk von Wilhelm Blum […] zeigt auf, dass die Metapher von der Höhle als ein rhetorisch-literarisches Genus höchstes Interesse beansprucht […].
Georgia Apostolopoulou in „Philosophia“ (Athen)
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