Wie erinnern sich junge Menschen heute an den Holocaust? Die „dritte Generation“ verfügt nur mehr über Erinnerungen an andere Erinnerungen: an familiäre Erzählungen, Fotos in Alben und Ausstellungen, an Geschichtswissen in Schulbüchern, an Literatur und Filme. Aus unterschiedlichen Fachperspektiven widmen sich die Beiträge daher aktuellen Suchbewegungen der jüngeren Generation nach einer konsensfähigen Erinnerung. So unterschiedlich, ja gegensätzlich persönliche Zugänge zur Geschichte über Medien und wissenschaftliche Einsichten auch sein mögen, in den Familien können die im Überlieferungsprozeß entstandenen Verzerrungen der privaten Geschichte mit historischem Wissen durchaus koexistieren. Offenkundig prägen die gegenwärtigen sozialen Rahmungen das Gedächtnis stärker als die Vergangenheit selbst. Erinnerungsgemeinschaften finden sich erst auf der Basis gemeinsamer Deutungen, Sinnwünsche, und Gefühlslagen zusammen. Den Konturen jener Rahmungen geht der Band nach und versucht, eine thematische Balance herzustellen: zwischen den generationellen Verabredungen und historischen Gegenständen sowie den kulturellen Praktiken, in deren Kontext sich Erinnerungen erst konstituieren und artikulieren. Können junge Menschen Narrative der Erinnerung aufbauen, die zu Bestandteilen des kulturellen Gedächtnisses werden?
Cornelia Blasberg / Jens Birkmeyer (Hgg.)
Erinnern des Holocaust?
Eine neue Generation sucht Antworten
Münstersche Arbeiten zur Internationalen Literatur Bd. 2
2006
ISBN 978-3-89528-531-8
kartoniert
Cornelia Blasberg, Prof. für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Münster; Studium der Germanistik und Politikwissenschaft in Marburg und Tübingen, Promotion 1983 (Krise und Utopie der Intellektuellen in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“), Habilitation 1996 (Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter und das Erzählen im Zeichen verlorener Geschichten); 1983-1986 Wiss. Mitarbeiterin im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Edition des Briefwerks von Karl Wolfskehl, 1987-2003 Assistentin und Hochschuldozentin an der Universität Tübingen. Veröffentlichungen zur Literatur des 18.-20. Jhds., Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, Ästhetik um 1900, Exilliteratur und Holocaustforschung.
Jens Birkmeyer, Oberstudienrat im Hochschuldienst für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik am Germanistischen Institut der Universität Münster; Studium der Germanistik, Philosophie, Politik- und Erziehungswissenschaft in Frankfurt am Main, Promotion 1992 (Bilder des Schreckens. Dantes Spuren und die Mythosrezeption in Peter Weiss’ Roman „Die Ästhetik des Widerstands“); bis 1995 Gymnasiallehrer in Hessen, Arbeitsschwerpunkte u.a. Literatur des 20. Jh., literarische Repräsentationen des Holocaust, Literaturdidaktik und Erinnerungskultur; Veröffentlichungen u.a. zu Jugendliteratur und Didaktik, Rose Ausländer, Elfriede Jelinek, Edgar Hilsenrath und Erinnerungskultur; Herausgeber eines Bandes zu Holocaust-Literatur und Deutschunterricht (2006) und der Lyrikerin Rose Ausländer (2006).
Der Band geht auf eine Ringvorlesung an der Universität Münster im Sommer 2005 zurück. Absicht war eine Orientierung an der Zukunft des Erinnerns, eine Abkehr von der „eher rückwärts gerichteten, den Augenzeugen zugewandten Erinnerungskultur des Jubiläumsjahres“ (S. 7). Ein Teil der Beiträge folgt der in der Einleitung angerissenen Frage nach der Generationenfolge des Erinnerns. Sie beschreiben, wie Verzerrungen der Geschichte im Prozess der Familienerzählungen mit historischem Wissen koexistieren. Eine zweite Gruppe von Beiträgen verdeutlicht, wie Institutionen auf veränderte Rezeptionsweisen und ihre Voraussetzungen reagieren. Die letzte Gruppe von Aufsätzen kommt aus der literaturwissenschaftlichen Forschung. Sie analysieren Erzählungen der „dritten und vierten Generation“, die Auseinandersetzungen mit Nationalsozialismus und Holocaust zum Gegenstand haben. Kurze Positionspapiere aus der Sicht der verschiedenen Disziplinen schließen den Band.
Ich beschränke mich darauf, einen Blick auf zwei Beiträge zu werfen, die von besonderer Relevanz für die Entwicklung einer zeitgemäßen historisch-politischen Bildung sind. Die Ausführungen von Nina Leonhard über die Geschichtserzählungen der „vierten Generation“ sind von großem Interesse für die Konzeption von pädagogischen Projekten zur Erinnerung an den Nationalsozialismus, weil sie sich deutlich von der eher dramatisierenden Interpretation Harald Welzers absetzen, dessen Beitrag in diesem Band seine bekannten Positionen referiert. Leonhard stellt ebenfalls fest, dass die Familienerzählung die Generation der Beteiligten aus der eigenen Familie schont. Zugleich wird aber eine „vollständige Diskreditierung des Nationalsozialismus“ selbstverständlich vertreten. Sie sieht in dieser Gleichzeitigkeit keine problematische Umwertung der Familiengeschichte, sondern einen Beleg für die Abnahme der Relevanz der Bezugnahme auf die eigene Familie bei der Konstruktion der Geschichtserzählung über Nationalsozialismus und Holocaust. Die Autorin fordert auf, an Stelle einer „genealogischen Erinnerungsforschung“ die Frage zu untersuchen, „welche Rolle die nationalsozialistische Vergangenheit für die Identifikation mit der nationalen Gemeinschaft namens Deutschland` weiterhin im Einzelnen spielen wird“ (S. 79). Sie verweist dann auf die Veränderung der deutschen Gesellschaft hin zu einer Migrationsgesellschaft, in der andere Formen des Geschichtsbewusstseins entstehen als in einem traditionellen Staatsvolk.
Ulrike Schrader zerlegt aus der Sicht einer Praktikerin der Gedenkstättenpädagogik eine exemplarische Rede, wie sie anlässlich von Gedenktagen gehalten wird. Aus der unendlichen Fülle solcher Reden, die immer wieder die gleichen Topoi reproduzieren, hat sie eine Passage von Roman Herzog ausgewählt. Die von solchen Reden ausgehenden Zumutungen an die Gedenkstätten und ihre Klienten werden analysiert und mit Gegenthesen konfrontiert. So entsteht ein durchaus programmatischer Text über die Chancen der historisch-politischen Bildung in Gedenkstätten an Orten nationalsozialistischer Verfolgung. Die Autorin listet in wirklich professioneller Verbindung aus Bescheidenheit und Selbstbewusstsein die Aufgaben der Gedenkstätten auf „Entdecken, sammeln, bewahren, zeigen und erklären“ (S. 117). Wenn das in den Gedenkstätten gelänge, wären sie wirklich herausragende Orte der historisch-politischen Bildung.
Gottfried Käßler, Fritz Bauer Institut (Newsletter zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Informationen des Fritz Bauer Instituts, Nr. 29/Herbst 2006)
[...] Hintergrund des Sammelbands sind vor allem die sozialpsychologischen Untersuchungen zum Familiengedächtnis von Gabriele Rosenthal (Der Holocaust im Leben von drei Generationen (1997))oder von Harald Welzer (Opa war kein Nazi (2002)), die beide mit je einem faszinierenden Beitrag in diesem Band vertreten sind.[...] Der vorliegende Band nimmt sowohl die Eltern und die Großeltern in ihrer Bemühung um Aufrechterhalten des Gedächtnisses wie auch die Enkel in ihrem Recht auf ihre neue Sicht auf die Vergangenheit ernst.
Annette Kliewer in „iasl.online“ (02.04.07)
Vollständig: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Kliewer9783895285318_2535.html
Der schmale Band versammelt eine beachtlich breite Palette von Beiträgen zur Rezeptionsgeschichte des Holocaust. [...] [W]as sie zeigen belegt, daß die von Fachwissenschaftlern beharrlich weiterverfolgte Historisierung des Holocaust mit den identifikatorischen Bedürfnissen im wiedervereinigten Deutschland immer weniger zur Deckung zu bringen ist. [...] Das Buch nährt auch Zweifel, ob es angebracht ist, den im Zusammenhang mit Holocaust-Tätern ohnehin problematischen Generationen-Begriff ad infinitum weiterzubemühen [...].
Jürgen Matthäus in „Historische Zeitschrift“ (Band 286, 2008)
[...] [Der] Sammelband ,,Erinnern des Holocaust?“ [...], der sich in drei Teilen der inoffiziellen (durch Familien tradierten), der offiziellen (durch Gedenkstätten und Massenmedien gepflegten) und der literarischen Tradierung von Erinnerungen an den Holocaust widmet. Aus sozialpsychologischer Sicht stellt Gabriele Rosenthal fest, ,,die Folgen der Vergangenheit werden in der Abfolge der Generationen nicht etwa schwächer, sondern sie werden in der dritten Generation sichtbarer“ (S. 43f.). Konkrete Folgen dieser Vergangenheit sind z.B. ein Esszwang unter Enkelkindern von Überlebenden als Kompensation für die großelterliche Furcht vor dem Hungertod im Lager. Vergleichsweise herrscht in den Familien von ehemaligen Tätern nicht, wie oft angenommen, das Schweigen, sondern das Abstreiten von Täter- und Zeugenschaft vor, die Erörterung des eigenen Leidens (unter Gefangenschaft, Flucht, Vertreibung oder Bombenangriffen), ,,während über das Leid der anderen geschwiegen wird“ (S. 36). Im Unterschied zur zweiten Generation, die sich ,,vor einer Nähe zur Familienvergangenheit schützt“ (S. 44), macht die größere Dialogbereitschaft der dritten Generation zwar Hoffnung auf die Aufhebung eines häufig von Tätern vertretenen Rechtfertigungs- und Verleugnungsdialogs, kann aber ebenfalls zu einer ,,weiteren Verletzung der Nachgeborenen“ (ebd.) führen. [...]
Peter Carrier in „Archiv für Sozialgeschichte“ (August/September 2009)
Die ganze Rezension ist hier zu lesen: http://library.fes.de/fulltext/afs/htmrez/81078-2.htm
Münstersche Arbeiten zur Internationalen Literatur