Prominente Zeitgenossen wie Theodor W. Adorno und Max Bense plädierten in der Nachkriegszeit lautstark für den Essay als Mittel der Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen. Als »kritische Form par excellence« versprach der Essay konsequente Ideologiekritik, und durch seine rhetorische Dynamik zugleich eine neue Qualität der Kommunikation. Doch was war im »drahtlosen Zeitalter« die angemessene mediale Form des Essayismus? Im Süddeutschen Rundfunk entwickelte Alfred Andersch Mitte der 1950er Jahre als Antwort auf diese Frage das neue Sendeformat »Radio-Essay«. Es sollte ermöglichen, »politische, soziale und geistige Probleme, Länder und Landschaften, ja selbst psychologische, soziologische und historische Phänomene im Funk darzustellen«.
Zu den ›Aushängeschildern‹ der Radio-Essay-Redaktion gehörten die Schriftsteller Wolfgang Koeppen und Arno Schmidt. Im Nachtprogramm des Stuttgarter Senders führten sie den essayistischen Kampf gegen die Gespenster der NS-Vergangenheit ebenso wie gegen die Gespenster der bundesrepublikanischen Gegenwart. In dieser Studie werden erstmals ausgewählte Radio-Essays beider Autoren vergleichend gegenübergestellt. Der Radio-Essay wird dabei als kritische Gedächtnisgattung verstanden, deren Methodenrepertoire nicht nur die Enttrümmerung des nationalen kulturellen Gedächtnisses ermöglichte, sondern auch die Demontage von Propaganda-Sterotypen des Kalten Krieges. In Abgrenzung zu bisherigen Ansätzen beschreibt diese Studie den Radio-Essay als moderne massenmediale Form, die spezifisch an die Kommunikationssituation im Rundfunk angepaßt ist.
Ansgar Warner
»Kampf gegen Gespenster«
Die Radio-Essays Wolfgang Koeppens und Arno Schmidts im Nachtprogramm des Süddeutschen Rundfunks als kritisches Gedächtnismedium
Moderne-Studien 3
2007 [als Print-Ausgabe: 2007: ISBN 978-3-89528-635-3]
ISBN 978-3-8498-1605-6
190 Seiten
E-Book (PDF-Datei), 1,9 MB
Ansgar Warner studierte Germanistik und Geschichtswissenschaft an der Freien Universität Berlin. 2002-2005 Teilnahme am »Internationalen Promotionsprogramm Literatur- und Kulturwissenschaften« (IPP) der Justus-Liebig-Universität Gießen, 2006 Promotion zum Dr. phil an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zur Zeit Post-Doktorand im DFG-Graduiertenkolleg »Transnationale Medienereignisse«. Veröffentlichungen zum Werk von Wolfgang Koeppen und Arno Schmidt, zur massenmedialen Propaganda der 1930er Jahre in Deutschland und Spanien sowie zur westdeutschen Gegenwartsliteratur.
Der innovative Vergleich unter thematischen Gesichtspunkten ergibt eine fundierte, manchmal verblüffende Zusammenschau. Dadurch arbeitet Warner zum einen bisher nicht erkannte Parallelen zwischen dem Werk der beiden Autoren heraus, und kommt zum anderen zu interessanten Erkenntnissen über die Medienlandschaft der frühen Bundesrepublik, zumal über die Freiräume, die auch damals für eine litterature engagée existierten. Das prägnanteste Beispiel dafür ist "Ein Fetzen von der Stierhaut" : Koeppens künstlerisch virtuose Kritik an der spanischen Diktatur ging so weit, dass sie zum offiziellen Protest des spanischen Generalkonsuls im Stuttgarter Funkhaus führte. Dadurch streicht Warner das politische Engagement beider Autoren heraus, das gerade für Schmidt immer wieder bestritten wurde. Um zu dieser Trennschärfe zu gelangen, beschränkt Warner sich auf einen kleinen Ausschnitt aus dem umfangreicheren Rundfunk-Oeuvre der beiden. […] Insgesamt legt der Autor […] eine sehr gelungene Studie vor, die den Weg für vertiefende Arbeiten über Schmidts und Koeppens Rundfunkarbeiten ebnen sollte.
Stefan Höppner in „literaturkritik.de“
Revolutionäre Forminnovation zuerst - dann konservative Besetzung - endlich untergründige allgemeine Transformation der Wahrnehmung: das scheint ein Sequenzmuster, Medienwirkungen technik-, sozial- und kognitionshistorisch zu beschreiben. Die Dissertation Ansgar Warners präsentiert ein aufschlussreiches Kapitel der gleichen Geschichte: den bundesdeutschen Radio-Essay der 1950er Jahre. [...] Eindrücklich zeigt Warner, dass [Arno Schmidts] Radio-Essays [...] radikal antihistorisch deutsche Geistesgeschichte aus der Perspektive der Gegenwartserfahrung rekapitulieren. [...] Warner [ist] zu danken, dass er sich der Verehrungstendenz der Arno-Schmidt-Gemeinde verweigert und dem vielwissenden und geschickten Monteur auf die Finger sieht. Die besten Abschnitte dieser Arbeit gelten Wolfgang Koeppen. [Hier geht] das Meiste auf - und zwar so, dass einem die Augen aufgehen. [...] Vielleicht wird sich einmal die Ansicht durchsetzen, dass der Koeppen der Jahre 1954 bis 1966 kein stecken gebliebener Romancier war, sondern ein virtuos die Genres und Register wechselnder Prosaist. [...]
Justus Fetscher in „Monatshefte“ (3, 2009)
[...] Warner unterstreicht [...] zugleich die Notwendigkeit, die Rundfunkarbeit von Schriftstellern in die jeweilige Werkbiographie einzubeziehen. Er kann zeigen, dass sowohl Wolfgang Koeppen als auch Arno Schmidt ihre Radio-Beiträge als Instrument zur Ansprache einer kritisch-intellektuellen wie kulturell-elitären Teilöffentlichkeit verstanden. Beide nutzten das Radio demnach nicht einfach zur Unterhaltung oder Bildung der Hörer, sondern wollten im Sinne einer litérature engagée "dezidiert zur Revision des traditionellen nationalen Wertekanons" (S. 114) und zur "Denazifizierung und Demilitarisierung des nationalen kulturellen Gedächtnisses" (S. 181) beitragen.
Als Sprachwissenschaftler interessiert sich Warner vor allem für die Verknüpfung der dem Essay immanenten ars combinatoria mit der erinnerungskulturell wirksamen ars memorativa (vgl. S. 18). Dem Radio-Essay sei es gelungen, letztlich die Kontingenz des Diskurses selbst kunstvoll zur Schau zu stellen; mithin sei er ein Meta-Medium bzw. gar ein "kritisches Gedächtnismedium" in Assmann'schen Sinn (S. 19-20). Fraglich ist, welche Auswirkungen dies auf die Rezeption der ästhetisch eigenwilligen Essays hatte, da sie ihren Hörern ohnehin viel Konzentration und Kondition abverlangten.
[Es] überwiegen am Ende die positiven Eindrücke der Arbeit, die vor allem durch die Rekonstruktion des in den Radio-Essays literarisch verdichteten politischen Engagements beider Autoren und der überfälligen literaturwissenschaftlichen Kartierung dieses Genres besticht.
Christoph Hilgert in „KULT_online“ (22/2010)
Die vollständige Rezension: http://cultdoc.uni-giessen.de/wps/pgn/home/KULT_online/22-5/
Moderne-Studien 3