[...] Seit der kognitionswissenschaftlichen Wende und dem sogenannten Pisa-Schock, die eine Output-Orientierung des Bildungssystems evoziert haben, stellen sich allerdings Fragen danach, „ob das Abitur heute als Ausweis von Kompetenz oder von persönlicher Reife zu betrachten ist“ und inwiefern „die Beschäftigung mit Literatur einen Zugewinn an Reife bringt“. Einen innovativen Ansatz zur Klärung dieses Fragekomplexes bildet der Blick in die deutschsprachige Bildungslandschaft, die nicht nur sechzehn Systeme in sechzehn Bundesländern hervorgebracht hat, sondern auch um eine jeweils spezifische österreichische und schweizerische Perspektive bereichert ist. [...] Sehr lesenswert wirkt der Beitrag des Pädagogen Detlef Quaas, der einen weiten Bogen spannt und auf die Geschichte des Deutschunterrichts zurückblickt. Aus der Darstellung des historischen Wandels der jeweiligen Intentionen von Unterricht wird ersichtlich, dass jede Generation ihre spezifischen Schwerpunkte und Entwicklungsbeiträge geleistet hat. Dass der traditionelle Deutschunterricht derzeit einen „umfassenden didaktischen und methodischen Wandel“ durchläuft, zeigt Quaas am Beispiel der Kerncurricula und des Zentralabiturs in Niedersachsen präzise auf. Aber auch die Kontinuitätslinie wird deutlich, denn Zielsetzung bleibe trotz aller Reformen „die Trias aus vertiefter Allgemeinbildung, Wissenschaftspropädeutik und allgemeiner Studierfähigkeit“. In einer kommunikationstheoretisch orientierten Darstellung unter der Überschrift „Das Verschwinden des Textes hinter dem Kontext“ betrachtet Fiebich die momentane Praxis der Aufgabenstellungen in der Abiturprüfung. Sie arbeitet schlüssig heraus, dass es zwei grundsätzliche Entwicklungsrichtungen in diesem Kontext geben kann: „Wir können uns ausschließlich auf das Überprüfen von Kompetenzen konzentrieren“, oder aber die Entwicklung kehre zum Humboldt’schen Bildungsideal zurück und verlange einen Nachweis über den individuellen Stand literarischer Bildung fernab jeder Standardisierung. [...] Bleibt zu fragen, welche „Chancen“ dem Abitur als Prüfungsformat nach den Ausführungen dieses anregenden und mit Gewinn zu lesenden Sammelbandes offen stehen. Auf die latente Spannung zwischen Erwartungshaltung und Gelingensbedingung weist abschließend Thielking hin, denn das Abitur als „Gelenkstelle“ im Bildungssystem sei durch die Zentralisierungstendenzen aufgewertet, „aber auch aufgeladen und (paradoxerweise) mit Vorstellungen von mehr… realisierter Bildungsgerechtigkeit besetzt worden.“
Torsten Mergen in „literaturkritik.de“ (Dezember 2010)
Die komplette Rezension: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=15061
|