Artikel-Nr.: 978-3-89528-433-5
Der Fokus des Sammelbands Echolos. Klangwelten verfolgter Musikerinnen in der NS-Zeit wird auf die theoretische Besichtigung der ‚Leerstellen‘ innerhalb der musikwissenschaftlichen Frauenexilforschung gerichtet; ebenso auf Komponistinnen, Musikpädagoginnen, Virtuosinnen, Kabarettistinnen, die seit 1933 in Deutschland verfolgt und/oder ins Exil vertrieben wurden. Die konkrete Spurensuche macht durch Fallgeschichten das Allgemeine im Besonderen sichtbar, lässt aber zugleich die Differenzierung des Besonderen bestehen. Die Fallstudien stehen im Sinne eines erweiterten Exilbegriffes für das uns heute noch unbegreiflich erscheinende Musikleben in Konzentrationslagern; sie stehen, ob es sich nun um Kabarettistinnen, Virtuosinnen oder andere handelt, für die Mischung von Individuellem und Gesellschaftlichem, von persönlichem Schicksal und gesellschaftlicher Ausgrenzung und Verfolgung. Sie stehen aber auch für den Perspektivwechsel, der den Blick auf die Kultur im Asylland richtete und eine Akkulturation erleichterte.
Der Band bemüht sich um eine spezielle Geschichtsschreibung, die scheinbar Unvereinbares nebeneinander stehen lässt und damit auf Bruchstücke einer zerstörten Kultur hinweist, die in der allgemeinen Geschichtsschreibung noch ephemer ist.
Daten |
Anna-Christine Rhode-Jüchtern / Maria Kublitz-Kramer (Hgg.) Echolos. Klangwelten verfolgter Musikerinnen in der NS-Zeit 2004 321 Seiten kartoniert ISBN 3-89528-433-5 |
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Inhalt |
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Autoreninfo |
Anna-Christine Rhode-Jüchtern (vorm. Brade), Jahrgang 1944, Dr. phil., studierte Musikwissenschaft, Musikethnologie und Geisteswissenschaften in Berlin und Göttingen. 1972-1976 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Johann-Sebastian-Bach-Institut. Seit 1980 vertritt sie am Oberstufen-Kolleg der Universität Bielefeld das Fach Musikwissenschaft. Schwerpunkte ihrer Veröffentlichungen sind die Musik in der NS-Zeit, Komponistinnen im 20. Jahrhundert, Synkretismus in der Musik Südamerikas. |
Aus der Kritik |
Ohne Widerhall nach der Lektüre bleibt er nicht, der Band Echolos zur Erforschung von Musik verfolgter Frauen im Kontext der nationalsozialistischen Diktatur. Die Sammelpublikation, herausgegeben von Anna-Christine Rhode-Jüchtern, vorm. Brade, und Maria Kublitz-Kramer, dokumentiert die Beiträge einer gleichnamigen Tagung, die im November 2002 am Oberstufen-Kolleg der Universität Bielefeld stattfand. Gerade durch seine konsistente Struktur, einer Dreiteilung in Überblicksbeiträge, Fallstudien zur Verfolgung von Musikerinnen im NS-Herrschaftsbereich und Exempeln von Künstlerinnen im Exil, ist der Band auch für den Leser leicht zugänglich, der an der Tagung nicht teilnehmen konnte. Gleich drei Vor- und Grußwörter leiten den Band ein, was auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheint, sich aber bei der Lektüre schnell erschließt: Neben einem programmatischen Vorwort der Herausgeberinnen finden einleitende Bemerkungen der Komponistin Pia Gilbert als kurzes Transkript einer multimedialen Botschaft zur Tagung hier ihren Platz, was der vorher geschilderten Programmatik direkten Bezug zur Praxis verleiht. So formulieren die Herausgeberinnen in ihrem Vorwort doch den Anspruch, durch "die konkrete Spurensuche in Form von Fallgeschichten das Allgemeine im Besonderen sichtbar zu machen", ohne Nuancierungen schleifen zu wollen. Das ist ihnen nicht nur mit der ungewöhnlich dicht gedrängten Vorwörter-Kombination gelungen, sondern auch mit dem schon geschilderten dreiteiligen Konzept des Bandes, dessen Qualität sich natürlich auch in der Eigenart der einzelnen Beiträge beweist. Neben den Aufsätzen zu Einzelbeispielen der Musik verfolgter Musikerinnen finden sich auch Artikel zu einzelnen Arbeitsgemeinschaften und Institutionen, die an der Erforschung der Thematik aktiv beteiligt sind. So wird in einem dritten Vorwort die Arbeitsgemeinschaft "Frauen im Exil" als Sektion der Gesellschaft für Exilforschung vorgestellt. Constanze Holze bietet als wissenschaftliche Leiterin in einem eigenen Beitrag ein umfassendes Portfolio zum Arbeitsansatz und verfügbaren Beständen des Frankfurter Archivs "Frau und Musik". Herauszugreifen aus den insgesamt drei überblicksartigen Beiträgen im ersten Teil des Bandes ist der Aufsatz von Claudia Maria Zenk. Unter dem Titel "Versuch, ein Forschungsfeld abzustecken" gelingt ihr genau dieses: Der Beitrag führt den Leser in die generellen Grundlagen und Besonderheiten frauenbezogener Exilforschung ein, bietet neben der Chronologie bisheriger wissenschaftlicher Tätigkeiten fundierte und detailreiche Fakten zur bis dato verwendeten und ausgebauten Datenbasis des Forschungsfeldes, ohne empirische Problematiken zu verschweigen. Im zweiten Teil des Bandes werden vor allem Portraits von Künstlerinnen gezeichnet, die unter der nationalsozialistischen Verfolgung leiden mussten. Trotz unmenschlichster Bedingungen fand künstlerischer Ausdruck seine Kanäle, für den nachgeborenen Leser unvorstellbare Dimensionen - als Beispiele sollen hier die Beiträge zu Kabarettistinnen im Konzentrationslager (Volker Kühn) und die Liedkompositionen der im KZ Ravensbrück gefangen gehaltenen Ludmilla Peškařová (Gabriele Knapp) genannt sein. Verschlungene Pfade der Emigration und die unterschiedlichsten Auswirkungen des Exils auf Künstlerpersönlichkeiten werden im dritten Teil des Bandes dargestellt. Besonders der Beitrag einer der Herausgeberinnen, Anna-Christine Rhode-Jüchtern, "kreuzt" die Lebensläufe der in der Musikpädagogik fortschrittlich aktiven Charlotte Schlesinger, Frieda Loebenstein und Charlotte Pfeffer. Durch die Verknüpfungen erscheinen Facetten des verschiedenartigen Umgangs der drei Frauen mit den Bedingungen des Exils, die aber alle auf eine gemeinsame inhaltliche Basis verweisen: die Entwicklung der Kestenberg-Reform am Seminar für Musikerziehung an der Hochschule für Musik in Berlin. Weitere Beiträge des dritten Teils zeigen die Schwierigkeiten und Perspektiven der Emigration bspw. nach Palästina/Israel insbesondere aus frauenbezogener Perspektive (Barbara von der Lühe), wie auch die Problematiken einer Rückkehr aus dem Exil in die DDR auf (Maren Köster). Abgerundet wird der Band durch ein umfassendes Literaturverzeichnis und ein ausführliches Personenregister. Den Herausgeberinnen ist es mit ihrer Publikation nicht nur gelungen, wie in ihrer Programmatik geschildert, allgemeine Linien durch herausgegriffene Exempel zu zeichnen und die Koordinaten des aktuellen Standes frauenbezogener Exilmusikforschung zu umreißen, sondern vor allem Impulse zu weiterem Nachdenken und wissenschaftlichen Arbeiten zu setzen. Zu hoffen bleibt, dass Echolos einen mehrstimmigen Widerhall finden wird. |