Aus der Kritik |
[...] Fußball hat also immer ein System, aber hat er auch einen Sinn? Jetzt ist es an der Zeit, dass die Professoren eingewechselt werden. "Ohne einen hermeneutisch-kulturwissenschaftlichen Zugang bleibt ungeklärt, was der Zuschauer eines Spiels erlebt, wie Fußball als sinnhaftes Phänomen konstituiert und vermittelt wird", schreibt Matías Martínez und fragt: "Welche Regeln, Normen, Interpretationen und Praktiken machen die Bewegungen auf dem Spielfeld verstehbar?" Antworten sollen die acht Aufsätze des von ihm herausgegebenen Bandes Warum Fußball? [...] geben. In Wahrheit will das Team um den Professor of Literature an der International University Bremen nur den anderen Fußballintellektuellen mal so richtig auf die Socken hauen, weil sie "offensichtlich unsinnige Thesen mit bestürzender Ernsthaftigkeit postulieren". Ein würdiges Endspiel in academia. [...]
Aus der Sammelrezension "Tor im Tor. Nach dem Spiel ist bei der Lektüre: Tipps für lesende Fußballfans" von Christof Siemes in DIE ZEIT vom 29. Mai 2002
Schopenhauer, zum Beispiel, bietet sich immer an, wenn man über Fußball philosophieren will –, ganz allgemein oder im besonderen darüber, was in diesen Tagen im Umfeld der deutschen Nationalmannschaft sich abspielt. Wie ganz schnell der Begriff der Ehre ins Spiel zurückgekommen ist, das Verhältnis von Gesellschaft, Gruppe und Individuum: „Ehre“, schreibt Schopenhauer, „ist, objektiv, die Meinung Anderer von unserem Werth, und subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung.“ Über die Ehre im Fußball schreibt Michael Ott in seinem Aufsatz in diesem Sammelband, und seine Ausführungen :sind auch als. ein Kommentar zur Geschichte von Ballack geworden.
Heidegger wiederum ist nützlich, wenn es um den Sportreporter geht, den im Rundfunk vorzugsweise, das zeigt Bernhard Siegert in seinem Beitrag über diese Profis in den Jahren 1923 bis 1933. Das Wort, sagt Heidegger in „Das Wesen der Sprache“, „ist nicht mehr nur benennender Griff nach dem schon vorgestellten Anwesenden, nicht nur Mittel der Darstellung des Vorliegenden. Dem entgegen verleiht das Wort erst Anwesen, d.h. Sein, worin etwas als Seiendes erscheint.“ Arno Schirokauer, der 1927 den visionären Aufsatz „Der Sportsprecher“ verfasste, hat diese Vorlage aufgenommen: „Aufgabe des Sportsprechers ist: Vorsänger zu sein, Führer durch die Erschütterungen des Wettkampfs. Nach seinem Ruf soll als tausendfache dröhnende Bestätigung der Chor, die Menge, die brüllende Bestie sich entsetzen, jubeln, feiern, jauchzen.“
Manchmal ist der Grad der intellektuellen Entzauberung zu stark in diesen Texten – mehr als jedes andere verlangt das Phänomen Fußball nach Benjaminschen Schreibern. Schön und geheimnisvoll wie ein Klee-Bild kommt einem in diesem Sinne ein Diagramm auf den ersten Seiten vor, ein visuelles Protokoll der ersten Halbzeit von Deutschland gegen Rumänien, 1984, das alle Spielzüge übereinander projiziert – die Zeit eines Geschehens, verdichtet im Raum, anschaulicher kann man eine Ahnung von den Problemen der Arbeit der Historiker nicht kriegen.
Ein kleines Foul zum Schluss, aber ein notwendiges, schon deshalb, weil es einfach Spaß macht. Es geht um den Text Von Hans-Ulrich Gumbrecht, der ein paar Überlegungen zur Philosophie des Spiels macht – als einer gesellschaftlichen Praxis, in der des um Präsenz geht und nicht, wie sonst üblich, um Bedeutung. „Auf einer ersten Ebene steht der Kontrast zwischen dem Etwas und dem Nichts ... Auf einer zweiten Ebene stellt sich die Frage: Wird das, was stattfindet, Chaos (entropische Funktion) oder Form (neg-entropische Funktion) sein. Wenn wir Form statt Chaos haben, stellt sich die Frage: kann es nach dem Entstehen dieser Form weitergehen oder nicht? Wenn es nicht mehr weitergehen kann, sprechen wir von einem touchdown.“ Damit ist die Katze aus dem Sack – Gumbrecht spricht vom amerikanischen Football. Der einfach die abstraktere Sportart ist, die der Postmoderne, der Dekonstruktion. Der gute alte Fußball, wir ahnten es, ist einfach zu kontinuierlich.
Fritz Göttler in der "Süddeutschen Zeitung" vom 29./30.06.2002
Für Philosophie-, Kulturwissenschafts- Anthropologie- oder Sportwissenschaftsstudenten, die das Thema Fußball in einem kulturellen Kontext zum Thema ihrer Magisterarbeit erhoben haben [...] Aber auch „normale“ Fans, die über den Tellerrand ihres Lieblingsvereins hinausblicken und den Sport aus einem anderen Blickwinkel betrachten wollen, sollten sich von der Lektüre [dieses Buches] nicht abhalten lassen.
In "Schalke unser. Fan-Zeitung Schalker Fan-Initiative" (2003)
Zu dem im Buch abgedruckten Aufsatz Ein höheres Walten des Wortes von Bernhard Siegert:
Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zwingen uns, mehr Respekt vor einer Regel im Fußball zu zeigen, die bislang bei falscher Auslegung durch den Schiedsrichter die Anhänger wechselweise zur Raserei brachte oder in tiefste Depressionen stürzte: das Abseits. Denn die Übertragung von Fußball im Rundfunk und später Fernsehen konnte erst durch die moderne Abseitsregel populär werden. Wir erinnern uns: Die Abseitsregel ist seit jeher so kompliziert, daß der gemeine Fußballfan eine entsprechende Spielszene auf seinem Sofatisch mit leeren Bierflaschen und einem Aschenbecher nachstellen muß, um sie dann immer noch nicht zu verstehen.
In den Anfängen des Fußballs gab es eine besonders ärgerliche Version: "Jeder Spieler, der der feindlichen Linie näher steht als der, der den Ball stößt, ist abseits." Dies bedeutete, daß der Spieler nur mit dem Ball nach vorne laufen durfte und daß das Abspiel nur nach hinten erfolgen durfte: Einen Beckenbauer mit seinen aus dem Fußgelenk gespielten, das gesamte Spielfeld überbrückenden Pässen oder einen Netzer mit seinen strategischen Spielzügen aus der Tiefe des Raumes hätte es bei einem Fortbestand dieser Variante wohl nie gegeben.
Welch ein Segen daher für die Menschheit, daß sich in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts allmählich eine neue Bestimmung durchsetzte. Danach war keine Abseitsstellung gegeben, wenn mindestens drei Gegner im Moment des Abspiels sich näher an ihrer eigenen Torlinie befanden als die Angreifer. Dadurch konnte sich eine Spielweise entwickeln, die der Fußballfachmann damals als "offensives Spielsystem" bezeichnete und in der der "offensive Mittelläufer" im Zentrum aller taktischer Überlegungen stand.
Allerdings muß den Zuschauern diese Bezeichnung schon bald als eine unverschämte Hochstapelei erschienen sein, da auch die neue Regel nur selten einen gefälligen Kombinationsfußball mit vielen Torraumszenen zuließ. Daher verabschiedete 1925 der International Board, die Weltregelkommission für den Fußball, eine neue Version: Danach mußten zum Zeitpunkt des Abspiels nicht mehr drei, sondern nur noch zwei Gegenspieler ihrer Torlinie näher stehen als die Angreifer. Dies war, so der Kulturwissenschaftler Bernhard Siegert, der Augenblick, in dem sich das damals noch junge Medium Radio für den Fußball wirklich zu interessieren begann. Zwar gab es schon vorher einige Live-Übertragungen von Spielen; diese vermochten den Zuhörer aber kaum zu fesseln. Der Reporter hatte nämlich die undankbare Aufgabe, eine Partie zu kommentieren, in der die Spieler aufgrund der strengen Abseitsregelung kaum nach vorne zu passen wagten und daher den Ball ständig bei Fummeleien an der Mittellinie vertändelten.
Erst mit der Änderung kam jene Dynamik ins Spiel, welche die Reportage zu einem aufwühlenden, nervenzerreibenden Ereignis machte. Nun wurde der Zuhörer nicht mehr mit Kommentaren wie "Der Ball geht in hohen Schlägen etwa in der Mitte des Feldes hin und her" sanft in den Schlaf gewiegt, sondern mit Schilderungen wie "Grahmlich zu Leinberger, Leinberger zu Krumm, der gibt steil auf Rohde, der müßte schießen" zu einem mitfiebernden Zeugen der Geschehnisse auf dem Platz gemacht. Siegert versteht es, die philosophische Dimension dieser entscheidenden Etappe in der Entwicklung der Fußballreportage im Hörfunk auszuleuchten: Ähnlich wie nach Heidegger das Wort dem Ding erst das Sein verschafft, verschaffe der Paß in den freien Raum, der die Bewegung des Stürmers antizipiert, dem Spiel erst das Sein.
Diese Erkenntnis, die auch vom Fußballprofessor Dettmar Cramer stammen könnte, stellt laut Siegert besondere Ansprüche an den Reporter. "Antizipierende Reaktion" sei von ihm gefragt, was - vereinfacht ausgedrückt - nichts anderes bedeutet, als daß er das Tor möglichst schon erahnen sollte, bevor es wirklich fällt. Nur ein Reporter wie Herbert Zimmermann, der über diese Fähigkeit verfügte, war also zu jenem legendären Satz fähig, der sich in das Gedächtnis der deutschen Fußballfans tiefer eingegraben hat als der Text der Nationalhymne: "Rahn müßte schießen, Rahn schießt, Tor, Tor, Tor!" Aufgrund dieser gestiegenen Anforderungen gab es schon Ende der zwanziger Jahre Forderungen, künftige Sportreporter aus dem Kreis der Dichter und Rezitatoren zu rekrutieren.
Es ist in höchstem Maße bedauerlich, daß sich diese Vostellung nicht durchsetzte: Es wäre doch interessant gewesen, zu hören, wie sich etwa Bertolt Brecht im August 1955 bei einer Übertragung des damaligen Länderspiels aus Moskau zwischen Deutschland und der Sowjetunion aus der Affäre gezogen hätte oder welche Kommentare Wolf Biermann bei der historischen Europacup-Begegnung zwischen Dynamo Dresden und FC Bayern München im November 1973 eingefallen wären.
Siegerts Erkenntnisse zwingen dazu, die Änderung der Abseitsregel aus dem Jahre 1925 und die damit verbundene Aufwertung der Rundfunkübertragung als Sternstunde der Fußballgeschichte zu betrachten, der mindestens die gleiche Bedeutung zukommt wie dem Wunder von Bern im Jahre 1954. Denn ohne das Radio hätte es niemals einen deutschen Fußballgott namens Toni Turek gegeben, und Rahns Schuß zum 3:2-Sieg über Ungarn wäre vielleicht schon bald in Vergessenheit geraten. Was wäre dann nur aus Deutschland geworden?
Nils Havemann in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 23.01.2002
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