Gefragt, wie Sentimentalität zu definieren sei, ließe sich antworten: als Unfähigkeit zu vergessen. Das retrograde Bewusstsein stellt die Signatur der Sentimentalität dar. Seltsam genug, dass einschlägige Bestimmungen des Begriffs diesen zentralen Zusammenhang nicht nur nicht fokussieren, sondern gleich ganz übersehen oder übergehen. Der eigentliche Skandal aber, der ein verklemmtes intellektuelles Versagen ans Licht bringt, ist die voreingenommene Verunglimpfung eines Phänotyps der Moderne. Zu entlarven bleibt die Diffamierung der Sentimentalität als neurotische Abwehr von Angst und Terror, die das Phänomen analytisch armselig und tatsächlich leer zu einem hässlichen Popanz der Moderne aufpumpen konnten. Wie sehr Sentimentalität selbst als Chiffre eine Identifikation der Moderne auf allen ›[para-]literarischen‹ Stufen des Schreibens ist, scheint immer noch eine neue Entdeckung zu sein.
Volker Steffen
Unfähigkeit zu vergessen
Über das sentimentale Prinzip der Erinnerung
Moderne-Studien 10
2012
ISBN 978-3-89528-887-6
172 Seiten
kartoniert
Volker Steffen, geb. in Berlin, ist Autor und arbeitet an seinem Habilitationsprojekt »›[Para-]Literatur‹. Zur Situation des Schreibens von Subjektivität in der Moderne« und seinem ersten Roman »[A-]Sentimental Story«.
Leseprobe: lp-9783895288876.pdf
Moderne-Studien 10