Aus der Kritik |
Jeder Leser kann es bestätigen und seine Leseerfahrung hinzufügen: In wenigen Stunden kann man per Lektüre ein Leben von über 80 Jahren durchschreiten, und ein andermal gräbt man sich über Wochen und Monate durch die Schilderung eines Tagesverlaufs, der sich über 500 Seiten erstreckt. Aber nicht nur dadurch zaubert ein Schriftsteller mit der Zeit. Scheinbar willkürlich kann er sie dehnen oder verkürzen, Zeitebenen ineinander verknäulen, nebeneinander stellen. Und wenn man dann nachdenkt, ist alles dann so willkürlich nicht, folgt einen Plan, einer Absicht.
»Zeit im Roman« ist das spannende Thema Werner Jungs, und er belässt es dabei nicht bei der Analyse wichtiger Romane seit Fontanes »Stechlin«, – er bezieht äußerst kenntnisreich die Meinungen von Literaturwissenschaftlern, Philosophen und Psychologen mit ein. So einfach das Thema »Zeit« scheint, so schwierig ist es. Schon Augustus sagte dazu: »Was ist denn Zeit? Wenn mich keiner fragt, weiß ich es. Aber wenn mich jemand bittet, sie zu erklären, kann ich es nicht.« Und an anderer Stelle: »Die Vergangenheit ist nicht mehr, die Zukunft noch nicht und der gegenwärtige Augenblick nur ein Punkt, der selbst aus dem Kontinuum der Zeit herausfällt.«
Dennoch existiert der Mensch immer in der Zeit. Anhalten oder beschleunigen kann er sie nur in der Erinnerung und Reflexion. Diesem subjektiven Bewusstsein von Zeit gibt die Kunst Ausdruck. Der Künstler (Drehbuchautor, Regisseur) oder Schriftsteller bestimmt Kürze oder Schnelligkeit der Begebenheiten, die er beschreibt. Gleichsam als Chronist des Zeitgeistes gibt er auch Zeitempfinden wieder. Wie brüchig sind doch feste Regeln und auch das Empfinden von Zeit, wenn sich Gesellschaftliches ändert oder im Leben des einzelnen plötzlich alles anders wird!
Dass unsere schnelllebige Zeit, die Hast des Alltags, das Fehlen von Sicherheiten auch die Strukturen und Gestaltungsmittel der Literatur beeinflussen, weist der Autor sowohl anhand von Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« als auch von Thomas Manns »Der Zauberberg« nach, wobei letzteres geradezu ein Paradebeispiel für ein unterschiedliches Zeitverhältnis ist. »Oben« – im Sanatorium – tickt die Zeit anders als »unten«, in der Welt der emsigen Betriebsamkeit. Langeweile und Monotonie scheinen die Zeit zu dehnen und verkürzen andererseits die spätere Erinnerung daran. Werner Jung ist den Zeitphänomenen der Moderne auf der Spur, bleibt dabei den großen Romanen der Zeit verbunden: Heinrich Bölls »Billard um halb zehn« wird ebenfalls ausführlich behandelt. Bis hin zu Texten von Peter Kurzeck, Uwe Tellkamp und Thomas Lehr werden die Untersuchungen geführt. Auch wenn Lehr einen Endpunkt versucht und in seinem Roman »42« (2005) die Zeit gänzlich anhalten lässt, ist den Versuchen, der Zeit adäquaten Ausdruck zu verleihen, kein Ende gesetzt: Peter Kurzeck wiederum dehnt die Zeit, indem er jeden Augenblick seines Lebens schriftlich festzuhalten versucht und das nie erreichen wird. Einen Aspekt dabei hat Werner Jung vollkommen außer Acht gelassen: Den Einfluss von Film und Fernsehen auf die Romanstrukturen. Fontane würde bestätigen: All das ist »ein weites Feld.«
Christel Berger in „Neues Deutschland“ (20.11.2008)
Werner Jung’s book on the hermeneutics of Zeiterfahrung is a veritable corvus albus. With his 10 essays ranging from Fontane, Musil, Thomas Mann, and Böll to Peter Kurzeck, Jung responds to the „spatial turn“ by reminding us that the project of an aesthetics of time is unfinished. His essay makes clear that the experience of modernity, that the „Unrettbarkeit des Ich“ (Ernst Mach), that Bloch’s „Dunkel des gelebten Augenblicks“, continues to be an issue in postmodernism.
Hans-Peter Söder in „German Studies Review“ 32/3 (2009)
Der Ausgangspunkt der Überlegungen Werner Jungs über die komplexen, polemischen (auch im etymologischen Wortsinn des Begriffs) Beziehungen zwischen Zeit und Literatur ist eine Untersuchung über die Moderne, die als eine sich durch ständige Unruhe und Beschleunigung, durch Neurasthenie und Nervosität, durch die Verkümmerung erlebter Erfahrungen und das Gefühl unabänderlicher Vergänglichkeit aller sozialen Beziehungen auszeichnende Epoche vorgestellt wird. Sowohl die Einführung als auch die verschiedenen Essays, aus welchen der Band zusammengestellt ist, verknüpfen die Charakterisierung der modernen Zeiten – eine Charakterisierung, die auf jegliche Abweichung hinsichtlich kritischer Positionen oder einseitigen Beifalls verzichtet – mit theoretischen Gedanken über den Roman. Die Strategie ist verständlich und überzeugend, vor allem insofern, als Jung, einer von Hegel initiierten Analyseweise folgend, in besagter Gattung die erste literarische Form entdeckt, die die Zeit als eines ihrer konstitutiven Elemente in sich aufnimmt; aber auch weil der anorganische Charakter des Romans, seine Flexibilität bei gleichzeitigem Beharrungsvermögen in Bezug darauf, sich mit Leichtigkeit an strenge und feste formale Vorgaben anzupassen, aus ihm eine repräsentative Form der durch das Fehlen von Ordnung und Maß gekennzeichneten Moderne machen. Seit dem Zusammenbruch der normativen Poetik, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts anzusiedeln ist, sehen sich Schriftsteller und in besonderer Weise Romanautoren dazu gezwungen, mit jedem einzelnen ihrer Werke eine Erkundung zu beginnen, deren Wege und Ziele sich als ihnen unbekannt erweisen; auf diese Weise verleihen sie den eigentümlichen Widersprüchen und Herausforderungen eines Zeitalters Ausdruck, in dem die „Universalität der Kontingenz“ (Luhmann) es geschafft hat, sich durchzusetzen, das heißt: „[D]ie Umstellung […] von einer geschlossenen, hierarchisch-ständisch gegliederten und auf das jenseits orientierten zu einer offenen, transzendental obdachlosen und funktional ausdifferenzierten Gesellschaft“ (14). Die Anspielung auf die transzendentale Obdachlosigkeit des modernen Menschen verweist schon auf einen der fundamentalen Referenzpunkte des Buches: Die Theorie des Romans (1914-15; 1920 als Buch publiziert) von Lukács, dessen Analyse das vierte Kapitel gewidmet ist („Die Zeit – das depravierende Prinzip. Kleine Apologie von Georg Lukács’ Die Theorie des Romans“).
Die in seiner Abhandlung von der Jugend aufgestellten Thesen des ungarischen Philosophen verfolgend, hält Jung fest, dass die innere Leistung des Romans der Kampf gegen die Zeit ist. Ausdruck der objektiven Zeitlichkeit, die durch die bürgerliche Gesellschaft vergegenständlicht ist, und zugleich Rebellion und Protest gegen dieselbe, versucht der moderne Roman eine transformierte Alltäglichkeit zu erschaffen, innerhalb derer die homogene und leere Zeit des alltäglichen zeitgenössischen Lebens gebannt bleibt. Die Epiphanie, als entscheidende Komponente der Tradition der Romanliteratur, eröffnet durch Proust, Joyce und V. Wolf – die ihren wichtigsten Vorläufer in Flauberts L’éducacion sentimentale (1870) findet –, entwickelt das Streben danach, die Beschleunigungstendenzen der Moderne aufzuhalten, indem sie den bedeutenden Moment, in dem man auf das Essentielle trifft, festhalten will, bevor er entgleitet und für immer verloren ist. Der zu erzielende Effekt für die Romanautoren der Moderne besteht in der totalen Entschleunigung, in der Entdeckung der Langsamkeit oder gar in der Überwindung der Zeit in der Zeit selbst. Dank dieser Mittel wird der im Wesentlichen krankhafte Charakter des gewöhnlichen alltäglichen Lebens, das nur behauptet, gesund zu sein, weil es ihm an Selbstvertrauen mangelt und weil es sich ohne Widerstand vom Strom der Zeit mitreißen lässt, zum Ausdruck gebracht. Es ist bezeichnend, dass die höchsten Werte im Roman leibhaftig auftauchen in den problematischen Helden Gestalt annehmen, deren extreme Exponenten der Kriminelle und der Wahnsinnige sind: „[D]enn im Grunde genommen zieht sich eine breite Spur von Outcasts, Underdogs und Verlierern, die man unter den Rubriken ‚Wahnsinniger’ und ‚Verbrecher’ typologisch fixieren kann, durch die nationalen Literaturgeschichten spätestens seit dem Ende der Aufklärung“ (66). Die degradierte Suche des problematischen Helden in einer verdorbenen Realität ist die höchste ethische und ästhetische Form, die die bürgerliche Moderne zulässt; aus der Position des outsider, des aus der normalen Gesellschaft Ausgestoßenen, ist es möglich, dieselbe auf scharfsinnigere Weise zu beurteilen, und somit sind, nach Proust, die Kranken die einzigen, die das Wesen der Gesundheit verstehen, oder mit anderen Worten gesagt: "Erst der auf sich selbst – auf seinen Körper und seine Krankheit – zurückgeworfene Mensch begreift die Entfremdungen und mithin Entfernungen von und aus der Zeit als mögliche Gefährdungslagen; erst der Kranke bemerkt, woran es dem Gesunden gebricht, was diesem fehlt – ein gesundes Verhältnis zur Zeit und seiner Zeit nämlich." (95)
Mittels der Behandlung einer Reihe von Romanen der deutschsprachigen Literatur stellt Jung die Legitimität seiner Thesen auf die Probe. Ausgangspunkt dieses Weges ist die Analyse von Der Stechlin (1898); der Roman von Fontane stellt eine logische Fortsetzung der von Flaubert begonnenen Experimente mit der Zeit auf: Während dieser sich vorgenommen hatte, einen Roman über nichts zu schreiben, der sich einzig und allein auf das Wunder des Stils stützt, konstruiert Fontane eine Erzählung, in der, wie er selbst es in einem Brief an A. Hoffmann erläutert: „Zum Schluss […] ein Alter [stirbt] und zwei Junge […]heiraten [sich]; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannung und Überraschung findet sich nichts“ (zitiert nach S. 38). Ein solcher Versuch, die Erzählhandlung durch die Reflexion zu ersetzen, zählt zu den wichtigsten Entwicklungszügen innerhalb der Romanliteratur des 20. Jahrhunderts und, was die Konstruktion der Charaktere betrifft, nimmt er die Figur des ‚passiven Helden’, die schon von dem bereits erwähnten Flaubert sowie auch von Goncharov in seinem Oblómov (1859) in beispielhafter Weise gestaltet worden war, wieder auf und formuliert sie um. Mit der großartigen Fähigkeit ausgestattet, die Beschaffenheit der Moderne als „Zeitalter der Nervosität“ (Radkau) wahrzunehmen, erschafft Fontane eine Welt, in der die Menschen keine Geschichte mehr zu haben scheinen; oder in der die großen repräsentativen Individuen zumindest nicht mehr die – bewussten oder unbewussten – Werkzeuge der List der historischen Vernunft sind; die Ereignisse finden schlichtweg statt und scheinen sich mit vollkommener Unabhängigkeit vom menschlichen Willen zu entwickeln. Dennoch gelingt es dem Autor des Stechlin hingegen auch, in diesem Roman aufzuzeigen, dass Zeit und Gesellschaft subjektive Realitäten sind, die sich als solche durch das Gespräch der verschiedenen Figuren herausbilden. Über Fontane hinaus geht Thomas Mann in Der Zauberberg (1924), indem er vorführt, dass alles dem Gesetz der Zeit unterworfen ist, aber auch konstatiert, dass es nicht die eine Zeit gibt, sondern dass nur individuelle, untereinander inhomogene Zeitlichkeiten existieren. Wenn Buddenbrooks (1901) als Roman über die Zeit bewertet wurde, deren Wesen sich in der Dekadenz darstellt, so ist diese Definition sogar noch angemessener auf Der Zauberberg anzuwenden. Die Verwandlung vom Ingenieur – der als solcher die instrumentelle Rationalität und die technische Produktivität des Bürgertums vor Augen führt – in eine nachdenkliche, melancholische Person, die der Protagonist Hans Castorp erfährt, als er in das Sanatorium eintritt, fasst die Entwicklung des modernen Romans zusammen. Die beiden Pole des erzählerischen Universums von Der Zauberberg – der erschütternde Fleiß der Ebenen und die unbewegliche Langeweile der Höhen – verdeutlichen per se die zwei Gesichter der kapitalistischen Moderne: einerseits der asketische Protestantismus, produktiv und nützlich; andererseits der apathische Konsumismus der leisure classes. Wie ein Moment der plötzlichen Enthüllung einer verborgenen Wahrheit in der alltäglichen Realität taucht hier der Augenblick der Epiphanie auf; ein Augenblick, der, im Unterschied zu dem, was bei anderen Schriftstellern der Moderne – wie Proust oder Joyce – geschieht, bei Mann als an Historizität gesättigt dargestellt wird. Nicht weniger kühn als dasjenige von Mann ist das Experiment, das von Musil in Der Mann ohne Eigenschaften (1921-1942) durchgeführt wurde und in dem der Leser sich nicht mehr mit Figuren oder Ereignissen wie im klassischen oder im trivialen Roman konfrontiert sieht, sondern mit einem Komplex an Beziehungen, für deren Erklärung sich die traditionelle, auf das Individuum ausgerichtete Psychologie als unzureichend erweist. In Der Strudlhofstige (1951) realisiert Heimito von Doderer, in der Herangehensweise Joyce folgend, eine minutiöse und ausführliche (der Roman überschreitet neunhundert Seiten) Rekonstruktion des 21. Septembers 1925, um aus diesem Tag den Katalysator einer zeitlich viel weitläufigeren Entwicklung zu machen, die die Zeitspanne von 1911 bis zur Gegenwart der Erzählung umfasst und die sogar auch Abschweifungen in den früheren (1909-1910) und den nachfolgenden Zeitraum (1945) einschließt. Dieser täuschende ‚Roman über einen einzigen Tag’ setzt die Poetik des Autors praktisch um, die dieser in seinem Tagebuch zusammenfasste: „Der Romanschriftsteller ist nicht Geschichtsschreiber seiner Zeit, etwa en détail oder unter Zeitlupe; sondern er dokumentiert und hält hoch, daß es trotz der Geschichte in seinem Zeitalter auch Leben und Anschaulichkeit gegeben hat“ (zitiert nach S. 124). Als gründliche Abrechnung mit der deutschen Nachkriegszeit verstanden, führt Billard um halbzehn (1959) von Heinrich Böll eine erzählerische Komplexität vor, die „nicht in der Fabel [liegt], sondern darin, einen beliebigen Tag […] aus den verschiedensten Perspektiven zu fokussieren und in diesem Fokus auch noch die zurückliegenden Zeitläufe (in erlebter Rede und in inneren Monologen) zu spiegeln“ (143); und dies findet „in durchaus (noch) realistischer Manier [statt], ohne daß der Autor auf verfremdende Mittel (der Karikatur, der Parodie, der Satire, etc.) zurückgreifen möchte“ (143-144). Ein spezifisches Kapitel ist der Analyse der Gestaltung der Zeit in einer Galerie zeitgenössischer Autoren gewidmet, in denen sich der Drang, die neuen Erfahrungen der Zeitlichkeit zu untersuchen, bemerkbar macht, der in das postmoderne Zeitalter einzuordnen ist und dessen finale Krise zu sein scheint: Wilhelm Genazino, Brigitte Kronauer, Hermann Lenz, Dieter Forte, Erasmus Schöfer, Marc Buhl, Uwe Tellkamp, Thomas Lehr, Peter Kurzeck. Es ist unmöglich, in einer kurzen Rezension über den Reichtum der einzelnen Analysen zu berichten; es reicht wohl aus, darauf hinzuweisen, dass sie die theoretischen Voraussetzungen auf überzeugende Weise begründen und illustrieren.
Miguel Vedda in „Revista de Filología Alemana“ (2009, vol. 17, 243-328)
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