Ein Gespenst geht um in den Literaturwissenschaften: die Intertextualität, oder, um mit dem ersten Satz aus O. Sills Essaysammlung zu antworten: »Literarische Texte beziehen sich aufeinander.« Daß es sich hierbei durchaus um mehr denn ein neues Paradigma, um mehr als eine vorübergehende Modeerscheinung der methodengebeutelten Philologien handeln kann, beweisen Sills kluge Beobachtungen zu Texten etwa von W. G. Sebald, B. Vanderbeke, H. Müller oder B. Kronauer, die der Leser Sill auf andere kanonische ebenso wie diskreditierte Texte (z. B. Höß' autobiographische Aufzeichnungen im Vergleich zu I. Kertesz' Roman eines Schicksallosen) zu beziehen weiß und – textnah ohne sich den jeweiligen Texten dabei bloß anzuverwandeln – miteinander ins Gespräch zu bringen versteht. Literatur – damit steht er in bester Tradition – ist ihm ein Spiel (vgl. 225), in dem bestenfalls die (soziale) Zeitordnung ihre Geltung und Gültigkeit einbüßt. Das Lesen, so Sill in seinem Nachwort, gleicht einer Wanderung, auf der man der »voranschreitenden Zeit für eine Weile« entkommen kann (vgl. 239), um schließlich auf neue Wahrnehmungsangebote (wie es bei S. J. Schmidt heißt) zu stoßen.
Werner Jung in 'Germanistik', H. 3/4, 2001
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