Die Figur des Kannibalen erlebt gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur in den Kulturwissenschaften, sondern auch in den künstlerischen Medien – insbesondere in den populären Horror- und Thriller-Genres – eine außergewöhnliche Konjunktur. Der Kannibale erlangt in den spätkapitalistischen Gesellschaften des Westens geradezu den Status einer kulturellen Ikone. In der Wahrnehmung dieser Ikone kreuzen sich noch einmal die beiden gegensätzlichen Traditionslinien, die den europäischen Diskurs über die Anthropophagie seit Jahrhunderten bestimmen – die ethnozentrische Bestialisierung des Kannibalen und seine kulturkritische Idealisierung. Doch indem sie sich kreuzen, neutralisieren sie sich gegenseitig: Die der Kannibalen-Figuration herkömmlicherweise zugeschriebenen Bedeutungen unterliegen einer nachhaltigen Erosion. Die Gestalt des Kannibalen wird im Zuge dieser Erosion ästhetisiert; das kritische Potential der Metapher verflüchtigt sich. Der anthropophagische Akt gewinnt das dubiose Ansehen eines kathartischen Vorgangs – einer gewaltsamen, aber heilsamen Reinigung, welche die Gesellschaft von vermeintlich fremden und schädlichen Elementen befreit. Der Kannibalismus wird zum Insignium einer Kultur, die sich offen zu ihren unersättlichen Begierden bekennt und sich eben dadurch von aller ,Schuld‘ und allem ,Schmutz‘ reinigen zu können glaubt.
Christian Moser
Kannibalische Katharsis
Literarische und filmische Inszenierungen der Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis
AISTHESIS Essay Bd. 18
2005
ISBN 978-3-89528-456-4
124 Seiten
kartoniert
Christian Moser, Dr. phil., unterrichtet Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Bonn.
Mosers Buch verfolgt eine durchweg einleuchtende Argumentation. Seine aus dem Kanon der Kulturproduktion der Neuzeit ausgewählten Beispiele verdeutlichen seine dialektische Position gegenüber dem Kannibalismus als Metapher und fügen der kulturwissenschaftlichen Debatte äußerst originelle Positionen hinzu. [...] So erfüllt Mosers Buch den (notwendigen!) ersten Schritt einer Neubewertung der kulturellen Produktionen, die den Kannibalismus zum Thema haben.
Stefan Höltgen in „literaturkritik.de“ (Nr. 7, Juli 2005)
Vollständig zu lesen unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=8267
Wen es zumindest ein Stück weit wunderte, daß im ausgehenden 20. Jahrhundert Sir Anthony Hopkins gleich zweimal kassenfüllend den ästhetischen Kannibalen geben und die Anthropophagie so aus dem Genre der Splatter- und Horror-Filme höchst erfolgreich ihren Weg in den Mainstream Hollywoods finden konnte, der tut gut daran, einen Blick in Christian Mosers handlichen Band [...] zu werfen. Auf engem Raum bietet Moser hier sowohl die historische als auch die interdisziplinäre Perspektive, die es ermöglicht, den anthropologischen Diskurs über den Kannibalismus mit Fragen literarischer und filmischer Ästhetik sowie den Exzessen der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft zu verbinden. [...]
Alexander Schlutz in „parapluie.de“ (Nr. 23)
[...] Um im Bild zu bleiben: Mosers konzise Darstellung seines komplexen Themas ist nahr- und schmackhaft, ohne zu übersättigen. [...]
Benjamin Hessler in „Komparatistik“ (2005/2006)
[...] Was die Einordnung der untersuchten Filme und Romane in die Tradition des europäischen Kannibalismusdiskurses angeht, überzeugt Mosers ebenso kenntnisreiche wie scharfsinnige Analyse und Kritik. Eine vielschichtige und trotzdem konsequente Argumentation bindet die quellennahen Analysen der generisch und historisch breit gestreuten Artefakte souverän zusammen. [...] [Der Leser] findet in Mosers kleiner Studie [...] viele erhellende Lektüren und weitreichende Gedanken.
Daniel Fulda in „Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen“ (2. Halbjahresband 2006)
AISTHESIS Essay