Wird die österreichische Zwischenkriegszeit 1918-1933/38 literarhistorisch und ästhetisch meist noch immer im Schatten der Wiener Moderne rezipiert und verrechnet, so soll der vorliegende Band Texte und kulturelle Phänomene in den Vordergrund rücken, die einerseits die radikale Deregulierung der Lebensverhältnisse seit 1918 in Österreich begleitet, andererseits zeitaktuelle Entwicklungen im Alltag kommentiert haben. Zur Diskussion steht neben dem üblichen Forschungskonsens – Wien bilanziert die Epoche, Berlin erfasst die Gegenwart – dabei die Frage, inwieweit diese Dialektik aus Krisen-, Umbruchs- und Aufbruchserfahrungen auch in Österreich einen neusachlichen Habitus vorbereitet hat. Unter anderem werden einige kennzeichnende, parallel zu Berlin, aber auch zum ‚Roten Wien‘ situierte kulturell-habituelle Diskurse im Feld des literarischen Feuilletons (Amerika, Ehe-Debatten, Geschlechterverhältnisse, Freizeit, Kleidung, Sport, Reklame) oder Aspekte der medialen Entwicklungen (Radio, Film, Kommunikationstechnologien und Literatur) in den 21 Beiträgen in den Blick genommen und analysiert. Neben Autoren wie H. Bahr, R. Musil, A. Polgar, J. Roth, A. Schnitzler kommt dabei diskursprägenden zeitgenössischen Stimmen wie E. v. Allesch, H. Bettauer, E. Fischer, O.M. Fontana, A. Höllriegel, G. Kaus, M. Karlweiß, A.T. Leitich, F. Rosenfeld u.a. verstärktes Augenmerk zu.
Primus-Heinz Kucher / Julia Bertschik (Hgg.)
„baustelle kultur“
Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918-1933/38
2011
ISBN 978-3-89528-837-1
495 Seiten, 19, z.T. farb. Abb.
kartoniert
Primus-Heinz Kucher, lehrt neuere deutsche Literatur an der Universität Klagenfurt mit Schwerpunkten im 19. und 20. Jahrhundert, u.a. auf Reise-Emigrations-Exil- und Immigrationsdiskurse, Jüdische Literatur in Mitteleuropa, Wiener Moderne, Kanonaspekte und Literarische Rezeption. Neuere Buchpublikationen zu Charles Sealsfield (2002), Alfredo Bauer (Hg., 2004) Adolph v. Tschabuschnigg (2006), Germanistik und Literaturkritik (Mhg., 2007) und im Aisthesis Verlag: Literatur und Kultur im Österreich der Zwanziger Jahre (Hg., 2007), Co-Koordinator von ‚www.literaturepochen.at/exil‘; Leiter der FWF-Projekts ‚Moderne und Antimoderne‘. Zur Literatur und Kultur der österreichischen Zwischenkriegszeit (2008-11).
Julia Bertschik, Privatdozentin für Neuere deutsche Literatur an der FU Berlin mit Schwerpunkten im Bereich des 19. u. 20. Jahrhunderts, der Kulturwissenschaft, Genderthematik und medialer Diskurse. Mitarbeiterin am FWF-Projekt ‚Moderne und Antimoderne‘. Buchpublikationen: W. Raabe (1995), Mode und Moderne (2005), Vampirismus-Diskurse (Mhg., 2005) V. Baum (Hg., 2006).
Leseprobe: 9783895288371.pdf
[...] viele der Beiträge [basieren] auf der Auswertung von Periodika, was ihre Besonderheit ausmacht und der Forschung neues Material erschließt. Es geht um neue Bewertungen, neue Akzente, es sind neue Blicke, die auf bekanntes und immer auch auf bisher nicht bekanntes oder einfach nicht beachtetes Material gerichtet werden. Für viele dieser Arbeiten könnte gelten, was Primus-Heinz Kucher am Schluss seines Beitrages über den österreichischen Medien-Diskurs schreibt: „dass die Debatte selbst viel facettenreicher und in den Ansätzen durchaus wegweisender war, als dies gängige Darstellungen über das Verhältnis von Literatur und Medienwelt in den österreichischen Zwischenkriegszeit bisher dargelegt haben.“ (S. 374) [...]
Walter Fähnders in „Buchhaus Wien / Literaturmagazin“ (August 2011)
Die vollständige Rezension: http://www.literaturhaus.at/index.php?id=9076&L=0%25252Fadmin%25252Ffile_manager.php%25252Flogin.php
Der Wert des neuen Sammelbandes liegt vor allem im Materialreichtum vieler Beiträge. […] Es erweist sich als gelungene Strategie, Literatur in einen Dialog mit Ergebnissen historischer Diskursanalyse zu bringen, ohne die Spezifik genuin literarischer Probleme und Lösungen zu negieren; in den neuen Quellen verpflichteten Beiträgen bestätigt er den Wert solcher Arbeit.
Werner Michler in „Zeitschrift für Germanistik“ (3/2012)
Die meisten der 21 Aufsätze dieses Bandes tragen […] zu einer Revision des in der Sache verfehlten Pauschalurteils bei, die Literatur der Wiener Moderne beschränke sich weitgehend darauf, retrospektiv eine Epochenbilanz zu bieten und tendiere dabei zu Vergangenheitsorientierung und weltflüchtiger Introspektion, während die Metropole Berlin demgegenüber als das eigentliche Zentrum avantgardistischer literarischer Auseinandersetzung mit den Spezifika moderner urbaner Lebenswelten zu betrachten sei, die sich in den progressiven Tendenzen des Naturalismus und Dadaismus sowie im weiten Spektrum der Massenkultur manifestiere und auch in der Ästhetik der Neuen Sachlichkeit einen erheblich ‚moderneren‘ Niederschlag gefunden habe. Mit Klischees und Vorurteilen dieser Couleur räumen die Aufsätze des Sammelbandes auf, indem sie auf der Basis eingehender Quellenstudien dokumentieren, in welchem Maße die angeblich so viel stärker den aktuellen Zeittendenzen zugewandte Literatur in der Metropole Berlin durch österreichische Autoren maßgeblich mitgeprägt wurde und zugleich durch interessante, literarisch produktive Interferenzen mit wichtigen Diskurskonstellationen der Metropole Wien vernetzt ist. Auf diese Weise werden einseitige Überbelichtungen und optische Verzerrungen in Thesen der bisherigen Literaturwissenschaft korrigiert. Damit bietet der Band einen wichtigen Beitrag zur angemessenen Einschätzung der literarischen Situation der Zwischenkriegszeit in Österreich und Deutschland.
Barbara Neymeyr in „Germanisch-Romanische Monatsschrift“ (Bd. 62, Heft 3/2012)
The twenty-one essays in this volume focus on literary production during a most exciting time in Austrian history, one which has often been overshadowed by studies of Fin-de-siècle Vienna. [...] the volume underscores the importance of a cultural-studies approach and what is gained by eschewing long-accepted literary categorization. Moreover, it highlights the contradictions and varierity of the era and the need for more work in this area, Finally it offers a wealth of ideas for further study.
Jacqueline Vansant in „German Studies Review“ (36,1/2013)