vergriffen
Die Auseinandersetzung zwischen liberalem Staat und katholischer Kirche im 19. Jahrhundert prägte das Selbstverständnis der Deutschen über Jahrzehnte hinweg. Der Kampf gegen den Ultramontanismus diente dem protestantischen Bürgertum als symbolischer Kraftakt zur Begründung einer nationalen Identität; Bismarcks Weigerung, nach Canossa zu gehen, verband sich mit Luthers reformatorischem Bekenntnis zur imaginären Tradition eines teutonischen "Kampfes gegen Rom".
Die vorliegende Studie demonstriert die Bedeutung des Kulturkampfdenkens an Texten dreier führender Vertreter des Realismus und Naturalismus. Indem sie die ideelle Verbindungslinie von Luther zu Bismarck in Romanen Fontanes, Gedichten C.F. Meyers und Dramen Gerhart Hauptmanns aufsucht, gelingt ihr der Nachweis, daß der Kulturkampf - als Projekt zur Definition nationaler Identität nach 1871 - selbst dort Spuren hinterlassen hat, wo man es nicht vermuten würde: in einem Liebesroman aus der besseren Gesellschaft, in scheinbar zeitenthobener Berglyrik, in einem Geschichtsdrama von 1914/15 und visionären Entwürfen der 20er und 30er Jahre. Die deutsche Kulturideologie der Weltkriegsära führt offenbar Denkmuster weiter, die auf die Leitdiskurse der frühen Bismarckzeit zurückgehen - und die Dichtung ist daran aktiv beteiligt.
Peter Sprengel
Von Luther zu Bismarck
Kulturkampf und nationale Identität bei Theodor Fontane, Conrad Ferdinand Meyer und Gerhart Hauptmann
119 Seiten
kartoniert
1999
ISBN 3-89528-236-7
Peter Sprengel, geb. 1949, ist ordentlicher Professor für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zur deutschen Literatur- und Theatergeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts; zuletzt: "Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900" (1998).
Sprengels Spurensuche hat etwas Detektivisches. Akribisch genau liest er seine Autoren, trägt Textstellen aus Briefen, Essays, Gedichten, Erzähltexten, Entwürfen und Fragmenten zusammen, hält diese Stellen gegeneinander und setzt sie wie ein Puzzle zusammen. [...] Stets wird die Interpretation mit einer ausführlichen Darstellung der Genese und des zeitgeschichtlichen Hintergrundes verbunden, so dass man nicht nur viel über die genannten Autoren, sondern auch Neues über literaturgeschichtliche Zusammenhänge erfährt.
Stefan Neuhaus in 'literaturkritik.de', Oktober 1999
Sprengels Aufsätze zu Fontane, Meyer und Hauptmann [...] geben in ihrer Gesamtheit einen informativen Überblick über die unterschiedlichen Haltungen, die damalige Autoren mit ihrem Werk dem Kulturkampf gegenüber einnahmen.
Michael Andermatt in 'Schweizer Monatshefte', April 2000