Die vorliegende Chronik bietet erstmals einen systematischen Überblick über die Literatur Westfalens der Jahre 1945-1975. Im Mittelpunkt stehen dabei – in möglichster Vollständigkeit – die Buchproduktion jener Jahre, literarische Zeitungen und Zeitschriften, Literaturpreise, Briefzeugnisse und der persönliche Werdegang von Autorinnen und Autoren. Schwerpunkt dieses ersten Bandes ist der literarische Neuanfang nach 1945, der in Wirklichkeit kein Neuanfang war. Die alten, vielfach NS-belasteten Autorinnen und Autoren bestimmten bald wieder das literarische Leben Westfalens, protegiert durch wiederbegründete Organisationen wie den »Westfälischen Heimatbund«. Mitte der 1950er Jahre regte sich Widerstand gegen eine rückständige Heimatliteratur und deren Förderung. Der Konflikt kam auf Dichtertreffen der Jahre 1955 in Marl und vor allem 1956 in Schmallenberg offen zum Ausbruch und führte in den Folgejahren zu einer Umorientierung. Zwei Zeitzeugen berichteten: »Dieses ›Schmallenberger Ereignis‹ ist eine der heilsamsten und spontansten geistigen Auseinandersetzungen gewesen, die Westfalen in den letzten Jahren erlebt hat. Sie hat erwiesen, dass sich eine Heimatdichtung noch längst nicht von selbst versteht und wie alle echten schöpferischen Vorgänge ein ›brutales Geschäft‹ ist, das zu täglich neuen Auseinandersetzungen herausfordert« (Walter Vollmer). »Eines ist zum sicheren Faktum geworden: Seit Schmallenberg gibt es keine Kontinuität mehr in der westfälischen Literatur […]. Tränen der Trauer oder der Wut sind deswegen nicht mehr am Platze« (Friedrich Wilhelm Hymmen). Letztlich trugen junge, kritische Autoren wie Paul Schallück und Hans Dieter Schwarze den Sieg davon. Der spätere Hagener Büchner-Preisträger Ernst Meister wurde zur Galionsfigur der literarischen Moderne in Westfalen.
Dreissig Jahre – in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne vollzog sich in der Literatur Westfalens ein grundlegender Wandel. Er führte von den Spätausläufern der Blut- und Boden-Literatur bis zum politischen Vers, zu Agit-Prop und verschiedenen Formen der Underground-Literatur (einschliesslich Film, Fernsehen und Theater). Der vorliegende Band dokumentiert diese weltanschauliche Öffnung und rückt literarische Vereinigungen wie die Dortmunder »Gruppe 61« und die »Werkkreis«-Bewegung in den Vordergrund. Forderungen nach einer politischen Literatur, die sich der Wirklichkeit der Arbeitswelt annehmen sollte, und Schlagworte wie »Literatur für alle« fanden damals in der gesamten deutschen Literaturwelt Widerhall. Im sich anbahnenden Pop-Zeitalter diversifizierten sich Literaturphänomene noch weiter. Dabei verwundert es fast, dass Westfalen in grösserem Masse Anschluss an progressive Strömungen fand – in der Literatur ebenso wie auf der Theaterbühne (wobei von den Ruhrfestspielen Recklinghausen und dem Landestheater Castrop-Rauxel wichtige Impulse ausgingen). Selbst die in Westfalen von jeher starke Heimatdichtung wagte Sprachexperimente im Stile der sogenannten »Wiener Schule«. Den grössten westfälischen »Literaturskandal« jener Jahre löste 1959 Reinhard Döhls Text »missa profana« aus, der als Verunglimpfung religiöser Sitten empfunden wurde – mit juristischem Nachspiel bis vor den Bundesgerichtshof. Solche Ereignisse zeigen paradigmatisch den hohen Stellenwert, den Literatur damals einnahm. Die Kluft zwischen konservativer und weltoffener Literatur zieht sich wie ein roter Faden nicht nur durch die westfälische Literatur.
Walter Gödden
unter Mitarbeit von Fiona Dummann, Claudia Ehlert, Sylvia Kokot und Sonja Lesniak
Chronik der westfälischen Literatur 1945-1975
2016
ISBN 978-3-8498-1156-3
2 Bände, 911 Seiten
kartoniert
Leseprobe: 9783849811563.pdf
Der Begriff Provinz muss in der Literatur nicht unbedingt abwertend gemeint sein. Regional verortete Texte vermögen im Idealfall, den Leser ganz nahe an die eigentliche Befindlichkeit der Menschen heranzurücken. Diesem Blick aus dem Fenster vor die Tür gilt, fern jeglicher Heimattümelei, das kritische Interesse in der neu erschienenen „Chronik der westfälischen Literatur 1945-1975“: grossformatig, unübersehbar, 911 Seiten in zwei Bänden, ein editorisches Statement, das sich nicht flugs ins Bücherregal einordnen lässt. [...] Die Chronik vereint die bereits bekannte Geschichte mit bisher übersehenen Aspekten der westfälischen Literatur [...] Fern allem Fachchinesisch weckt die bewundernswerte Fleissarbeit der Herausgeber Neugier auf eine Literaturlandschaft, die ihren Platz zumeist eher in zurückhaltenden Erkundungen denn im grellen Licht der Schlagzeilen findet. Und natürlich stellt sich die Frage: Wie geht's eigentlich weiter nach 1975? Fortsetzung erwünscht.
Werner Streletz in „Westfalenspiegel“ (2/2016)
Die Literaturkommission für Westfalen ist ein vorzügliches Beispiel dafür, welch wichtige Rolle literarische Gesellschaften für die Förderung und Erforschung regionaler Literatur spielen. Ablesen lässt sich das nicht zuletzt an den Bänden der seit 1999 bestehenden Reihe ihrer Veröffentlichungen, in der in den beiden Unterreihen bis Mitte 2016 nicht weniger als 66 Bände erschienen sind. [...] Die Chronik beabsichtigt, „das Material in möglichster Vollständigkeit zu sammeln und zu strukturieren“ und befasst sich dazu keineswegs bloss mit gedruckten und sonstigen literarischen Zeugnissen, sondern vorzüglich mit dem literarischen Leben Westfalens in seiner ganzen Breite, also, willkürlich aufgereiht, mit Literaturpreisen und den sie auslobenden Institutionen, anderen Formen institutioneller Förderung, literarischen Werkstätten, Dichtertreffen, literarischen Gruppierungen unter Berücksichtigung sowohl der Arbeiten für Rundfunk, Fernsehen und das Theater als auch aller literarischen Richtungen, von der in Westfalen „von jeher starken Heimatdichtung“ über Arbeiterliteratur und Mundartdichtung bis hin „zu einer literarischen Galionsfigur“ wie dem „abstrakte[n] Lyriker Ernst Meister,“ dem 1979 postum der Büchnerpreis verliehen wurde. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Chronik die Auseinandersetzung zwischen konservativen und progressiven Kräften: die braune Tradition der westfälischen Literatur brach keineswegs mit dem Ende des Dritten Reiches ab, konnte doch die „Autorengeneration, die offen mit dem Nationalsozialismus sympathisiert hatte,“ auch „nach 1945 zunächst unbehelligt weiter publizieren“, wurde dann aber „spätestens mit dem Schmallenberger Dichterstreit 1956 zur Abdankung gezwungen.“ [...]
Klaus Schreiber in „Informationsmittel für Bibliotheken“ (IFB, August 2016)
Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, Band 63
|
|