Botschaften aus dem Reich der Schwelle, das sind Texte, die von grenzgängerischen, gesichts- und geschichtslosen Wesen handeln, amorphen, ausgelöschten Nicht-mehr-Personen, deren einstige Identität sich in einem schattenhaften, abgelegenen Niemandsland verflüchtigt zu haben scheint. Romane und Kurzgeschichten über das unerlöste Schweben und Wandern zwischen stabilen Seinsweisen und Welten, über schmerzhafte psychische Wandlungskrisen, über Todesnähe, gesellschaftliche Ausgeschlossenheit und Marginalität. Texte, die sich auch sprachlich und narrativ auf jene Grenze zum Unnennbaren und Entrückten hinbewegen, von der sie als Sujet berichten. Sie alle werden mit dem Näherkommen der Jahrtausendwende immer öfter in der extravaganten und vielschichtigen Form des Du-, You- oder Vous-Erzählens verfaßt, einer eigenartigen und vielschichtigen Erzählweise also, die durch einen schlichten grammatikalischen Kunstgriff die vertrauten Formen etablierter Narrativik subvertiert. Diesem faszinierenden narratologischen Spezialphänomen nähert sich die vorliegende Studie auf kulturanthropologischen Wegen völlig anders als die bisher diskussionsbestimmende klassische Erzähltheorie und gelangt dabei zu einer neuen Sichtweise unüblich, paradox und regelwidrig scheinender Schreibtechniken.
Ursula Wiest-Kellner
Messages from the Threshold
Die You-Erzählform als Ausdruck liminaler Wesen und Welten
1999
213 Seiten
gebunden
ISBN 3-89528-259-6
Ursula Wiest-Kellner, geb. 1962, studierte Englische und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft sowie Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie war von 1992 bis 1995 wissenschaftliche Koordinatorin des Graduiertenkollegs »Geschlechterdifferenz & Literatur«. Promotion 1999.
In der gegenwärtigen Situation, in der [...] verstärkt über eine interdisziplinäre Weiterentwicklung der Narratologie auf eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Erzählforschung hin diskutiert wird, betritt diese theoretisch und intepretatorisch gleichermaßen gehaltvolle Untersuchung in mehrfacher Hinsicht Neuland. Sie begibt sich auf ein bislang unzureichend kartographiertes Gebiet [...], denn es handelt sich um die erste Monographie zu einer inzwischen weit verbreiteten Erzählform, die bislang zumeist als eine "jenseits der Erzähltheorie" (9) angesiedelten Anomalie aufgefaßt oder als Spezialphänomen marginalisiert wurde. [...] Auch in interpretatorischer Hinsicht erschließt diese Arbeit Neuland, wobei die Textauswahl begrüßenswerterweise die Grenzten zwischen 'Nationalliteraturen' überschreitet. Bei den subtilen und erhellenden Interpretationen eines breiten Spektrums von [...] Romanen erweist sich der im theoretischen Teil überzeugend dargelegte erzähltheoretisch-kulturanthropologische Ansatz als überaus produktiv. [...] In ihren außerordentlich dichten und erkenntnisreichen Interpretationen, die ebenso textnah wie theoriebewußt sind und deren Erkenntnisreichtum in einer kurzen Besprechung nicht einmal angedeutet werden kann, erbringt die Verfasserin auf sehr überzeugende Art und Weise den Nachweis für ihre zentrale These, "daß eine enge, wenn auch nicht sofort erkennbare Zusammengehörigkeit zwischen der Form des You-Erzählens und dem Seinsbereich des Liminalen besteht" (35).
Darüber hinaus zeigen die Romananalysen geradezu beispielhaft, wie die narratologisch fundierte Analyse literarischer Erzähltexte mit weiterreichenden kulturwissenschaftlichen Fragestellungen verknüpft werden und wie eine innovative Erzählforschung (gerade auch eine feministisch orientierte Narratologie) aussehen kann. [...]
[Es] sei abschließend hervorgehoben, daß diese (im übrigen auch glänzend geschriebene) Studie für einen breiten Leserkreis von großem Interesse ist und daß sie das Zeug dazu hat, zu einem Standardwerk zur You-Erzählform - und zur 'postklassischen' Erzähltheorie - zu werden. Mit ihrer bahnbrechenden Verbindung narratologischer und kulturanthropologischer Perspektiven könnte sich diese außerordentlich lesens- und empfehlenswerte Momongraphie außerdem in methodischer Hinsicht als wegweisend für die weitere Entwicklung der Erzählforschung erweisen, denn sie leistet nichts Geringeres, als "den Weg in eine neu zu schreibende Anthropologie des Erzählens" (90) zu weisen. Es bleibt zu hoffen, daß dieses Buch [...] sehr viele Leser und Leserinnen finden wird und daß es der Erzähltheorie und Erzähltextanalyse möglichst viele Impulse geben mag.
Ansgar Nünning in: 'Literatur in Wissenschaft und Unterricht', XXXIII, 3/2000