Bluescreen - JUNI. Magazin für Literatur und Kultur, Heft 43/44

Artikel-Nr.: 978-3-89528-769-5
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An ein Denkmal des Utopischen ist zu erinnern: Thomas Assheuer hat in Die Zeit darauf verwiesen, dass Ernst Blochs Hauptschrift Das Prinzip Hoffnung vor fünfzig Jahren erschienen ist. (1) Dieser Hinweis freut, denn wer liest schon noch Bloch? Was niemanden verwundern kann, denn Assheuer konstatiert mit gutem Recht, dass wir heute so – wie Bloch – nicht mehr denken könnten, selbst wenn wir wollten: Der Autor Bloch lebe sichtlich auf einem anderen Planeten, utopische Prinzipien seien heute schlicht Makulatur, ja, sogar Blochs „stilistischer Posaunenton“ sei veraltet.

Bloch ist auf seine Weise historisch geworden. Kein Zweifel.

Das zeigen auch die 2007 erschienenen Feuilletons, die Bloch in den 1920er und frühen 1930er Jahren für das Vorgängerblatt der FAZ, die Frankfurter Zeitung geschrieben hat, auch wenn sie, wie der Herausgeber Ralf Becker bemerkt, um Themen kreisen, die uns auch heute noch berühren: um das „Dunkle des gelebten Augenblicks“ und um die „unkonstruierbare Frage“, was denn der Mensch sei (unkonstruierbar sei sie, habe Bloch gemeint, weil sie jeder Theoriekonstruktion vorangehe).(2) Der Mensch als unvollendetes, utopisches Projekt, der sich immer wieder neu entwirft, ohne zu wissen, was daraus werden soll.

Das findet sich nicht zuletzt in solch unnachahmlichen Sentenzen wie „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst“, die den Spuren vorangestellt sind. Dafür haben wir Bloch geliebt, und für seine intellektuellen Volten, die noch im kleinsten und unscheinbarsten Phänomen jenen Moment finden, der über die einigermaßen fade Alltäglichkeit der Existenz hinausweist. Der hohe Ton mindestens macht es möglich. Nur der Ton ist uns fremd geworden. Denn was soll der „utopische Präsens“ sein, von dem Bloch in einem seiner Feuilletons sprach?

Kein Wunder, die Hohe Zeit des Utopischen ist mittlerweile vorüber. Die 1970er und 1980er Jahre, in denen die Ideen und Vorstellungen einer neuen Gesellschaft ins Kraut schossen, sind Vergangenheit. Die Gesellschaft hat sich – eine weitere ironische Volte – nicht von den Zwängen des Kapitalismus befreit, wie es Bloch gedacht hat, sondern – nach 1989 – vom Sozialismus, der Kapitalismus hingegen erscheint als Befreier.

Auch das ist nun 20 Jahre her, Zeit also sich wieder einmal dem Utopischen zu nähern und seinen illegitimen Geschwistern, der Science Fiction wie dem Phantastischen. Dass die Welt anders sein kann als sie ist, und vor allem in Zukunft anders sein wird als heute, ist dabei wenig bemerkenswert. Die Zukunft, das Phantastische und die Utopien sind ja „nur“ Projektionsfolien, in der eine Gegenwart ihre Möglichkeiten, Grenzen und Desaster auslotet. Die Welt anders sehen zu wollen als sie ist, zeigt eben auch immer, wie sie ist. Das kann – wie in vielen Science Fiction geschehen – die Gegenwart und ihre Themen schlichtweg abbilden (wie etwa die Schwierigkeiten des Annäherungsprozesses zwischen Ost und West sich in der Versöhnung zwischen Menschen und Klingonen wiederfinden lässt). Das kann sich als purer Szenenwechsel gestalten, aber auch als Versuch, aktuell denkbare Problemlösungsstrategien in der Fiktion auszuprobieren. Und all das reicht bis in jene Regionen, in denen die angstbesetzten Zonen der Gegenwart literarischen Ausdruck finden.

Vieles davon haben wir in diesem Band unterbringen können. Zentral- und Seitenstudien, die eben immer diesen anderen Modus des Sprechens und Sehens in den Blick nehmen. Wir haben die Beiträge im Wesentlichen chronologisch geordnet, quer durch die Genres. Und wir haben uns erlaubt, diesen Band mit Gedichten von Ian Watson und Luca Clabot zu rahmen. Aber er ist den beiden Autoren Johanna und Günter Braun gewidmet, die im vergangenen Jahr verstorben sind.

Dieser Band ist das Resultat eines Seminars, das die beiden Herausgeber im Wintersemester 2006/2007 in den Studiengängen Master Editionswissenschaften und Master Literaturwissenschaftliche Praxis der Freien Universität Berlin durchführten. Ziel des Seminars, das im Folgesemester als Praktikum weitergeführt wurde, war die Produktion einer Ausgabe des JUNI-Magazins mit dem Themenkomplex „Utopien – Phantastik – Science Fiction“. Den Studierenden, die die Redaktion dieses Bandes übernommen, seine Struktur bestimmt und die Produktion eine große Strecke begleitet haben, wollen wir an dieser Stelle für ihre Arbeit, ihre Kreativität und für ihren Langmut danken. Jetzt können wir ihnen endlich die Früchte ihrer Arbeit vorlegen. Der Dank gilt auch den Beiträgern, die sich uns anvertraut haben und nicht minder geduldig waren.

(1) Thomas Assheuer: Die Welt am Enterhaken. Vor fünfzig Jahren erschien Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung. Warum wir heute so nicht mehr denken können. In: Die Zeit Nr. 46, vom 5.11.2009, S. 47.
(2) Becker in: Ernst Bloch: Der unbemerkte Augenblick. Feuilletons für die Frankfurter Zeitung 1916-1934. Frankfurt/M. 2007, S. 25.

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