„Auf Augenhöhe mit Heidegger“ – um 1968 wäre diese These Axel Honneths kaum in Frage gestellt worden. Georg Lukács und sein Werk erlangten damals einen Höhepunkt der Rezeption. Vierzig Jahre danach stellt sich die Frage nach der Relevanz seines gegenwärtig gerne vernachlässigten, aber selten zu ignorierenden Werks und dessen Rezeption im Umfeld der 68er-Generation. Hat deren Wiederentdeckung des „jungen“ Lukács den Zugang zu einem Klassiker der Gegenwartsphilosophie geebnet, oder hat eine „paradigmatisch falsche“ Rezeption dazu beigetragen, dass das umfangreiche Oeuvre auf nicht selten politisch motivierte Vorbehalte stößt, die den Zugang zu dem Werk eher verbauen? Das vorliegende Buch ist ein Lesebuch, ein Mixtum compositum subversiver, melancholischer, manchmal archivarischer, oft dissonant-kritischer Texte; es soll zum Stöbern und Entdecken einladen, zu eigensinnigen Annäherungen an das Phänomen Lukács. Es geht um die vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit einem Autor, der – wie auf andere Art Wittgenstein, Heidegger, Bloch oder Habermas – die Philosophie des 20. Jahrhunderts geprägt hat und der bei der Aufgabe helfen könnte, „eine post-habermasianische kritische Theorie“ zu formulieren.
Rüdiger Dannemann (Hg.)
Lukács und 1968
Eine Spurensuche
2009
ISBN 978-3-89528-707-7
357 Seiten
kartoniert
[...] Die Frage, warum man die Fossilien der sechziger Jahre ausgräbt, erscheint müßig in einer Zeit, in der einfache Vergangenheit schnell zur Memorialkultur oder zum Retroschlager wird. Aber wozu werden jetzt, wo die Bewegungen um 1968 Geschichte sind, Raubdrucke des marxistischen Literaturtheoretikers Georg Lukács aus der Versenkung geholt? Das hat Albrecht Götz von Olenhusen getan und die Ergebnisse in einer Studie zur „Rezeption von Lukács' Werken durch Raubdrucke der Studentenbewegung“ vorgelegt (in: „Lukács und 1968. Eine Spurensuche“, herausgegeben von Rüdiger Dannemann, Aisthesis Verlag, 2009).
Die Art und Weise, in der die Schriften von Lukács in den kurzen, aber explosiven Jahren zwischen 1967 und 1969 in der linken Szene verbreitet und aufgenommen wurden, spiegelt den Konflikt zweier Interessen: Erkenntnis und Kapital. Olenhusen zeigt Lukács als Autor, der in den „Subversivdruckern“ zwar einen „interessanten Kleinwiderspruch im Großkapitalismus“ sah, aber über die illegalen Neudrucken seiner eigenen Schriften nicht immer glücklich gewesen ist - Autorschaft ist Druckherrschaft -, auch wenn die Raubdrucke, ganz wie im Fall der Frankfurter Schule, wesentlich zur Verbreitung seiner Gedanken beitrugen. Werke wie „Organisation und Partei“ wurden für ein Drittel des Originalpreises auf dem Untergrundmarkt gehandelt, und das in beachtlicher Anzahl: „Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik“ wurde 1967 in zweitausend Exemplaren und kurz darauf in dritter und vierter Auflage von je tausend Exemplaren verbreitet.
Doch vielsagender als der nüchterne Überblick über die wichtigsten Lukács-Raubdrucke sind die Einsprengsel einer Rahmenerzählung, die Olenhusens Studie gelingt: die Geschichte der provinzielleren Ränder dieses untergegangenen linken Milieus. So beschreibt Olenhusen, wie er aus Hannover zu einer konspirativ verabredeten Betriebsbesichtigung einer „kleinen und handwerklich wie ästhetisch herausragenden Raubdruckerei“ auf dem Dorf fuhr, an Nachdrucken interessierte trotzkistische Schauspieler traf oder auf eine schäbige Reisetasche stieß, in der sich nichts außer einer Kiste Havanna-Zigarren und „zwei in rote Kartonage gebundene Ausgaben von Georg Lukács“ befanden.
Vielleicht wäre also einundvierzig Jahre nach 1968, genau hier anzusetzen: an der Beschaffenheit des flächendeckenden Interesses für den Typus des Raubdrucks. Denn Ohlenhusens Untersuchung verdeutlicht, wie stark die Drucke inhaltlich an gerade aktuellen Debatten orientiert waren und wie groß ihr Anspruch war, das für „die Diskussionen“ nötige Material billig und schnell verfügbar zu machen. Immerhin: Das waren Zeiten, in denen Sozialtheorien, Ästhetiken und Geschichtsphilosophien schnell gelesen werden wollten, weil sie als unentbehrliche Munition im Diskussionsalltag galten. Wissenschaftlich ernst genommen wurden die Raubdrucke bislang kaum, und in den offiziellen Bibliographien zu Lukács' Werk tauchen sie nicht auf. Ob das die Rache des kapitalistischen Systems ist, oder schlicht daran liegt, dass die rasch zusammenkopierten Drucke sich durch ihre mäßige Qualität ins rezeptionsgeschichtliche Aus katapultierten, sei dahingestellt. Denn vielleicht ist eine wissenschaftliche Theorie zu dieser Epoche auch gar nicht möglich: allein weil die Rezeption von Lukács damals oft so realitätsentrückt war, wie heute die raubgedruckten Heftchen wirken.
Mara Delius in „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (4. März 2009)
[...] Daß Rüdiger Dannemann [...] sich auf Spurensuche begeben hat nach dem Verhältnis der 68er zu Lukács ist [...] der Ehre und der Rede wert. [...] Es ist überaus spannend und anregend, so unterschiedliche Denker wie beispielsweise Wolfgang Fritz Haug und Detlev Claussen, Michael Löwy und Erich Hahn, György Dalos und Andreas Arndt, Frieder Otto Wolf, Peter Bürger und Rudi Dutschke zur selben Person sich äußern zu sehen. [...]
Christoph Jünke in „Junge Welt“ (10.06.2009)
[...] Lukács ist, ähnlich wie Ernst Bloch, der vergessene marxistische Heidegger. Es ist daher das große Verdienst von Rüdiger Dannemann, auf nahezu aussichtslosem Posten in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder an das Erbe von Georg Lukács erinnert zu haben und ein Werk hochzuhalten, das nicht nur von hoher Aktualität ist, sondern auch aktualisiert rezipiert werden sollte. [...]
Volker Caysa in „mironde.com“ (September 2009)
Die vollständige Besprechung: http://www.mironde.com/content/website.php?id=/index/litterata/reportagen/0937.htm
[...] Wenn sich Autoren wie Peter Bürger, Jürgen Meier oder György Dalos in mehr oder minder biografisch gehaltenen Skizzen über ihren Zugang zu Georg Lukács äußern, ist eine breitest mögliche Skala der Sichtweisen gewährleistet. In kurzen Studien und Abrissen artikulieren sich verschiedene Einschätzungen unter anderen von Detlev Claussen, Frieder O. Wolf oder Stefan Bollinger zum Komplex „Lukács und die Neue Linke“. Vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Umbrüche der 1960er-Jahre bot es sich an, gerade auf „Geschichte und Klassenbewußtsein“ zurückzugreifen, um sich Klarheit über die Verhältnisse und damit Handhabungen taktischer und strategischer Art zu verschaffen. „Den Kernpunkt“, wie es Heinz Kimmerle ausdrückt, „bildet freilich die Analyse des Phänomens der Verdinglichung“. [...] Lukács lesen lohnt sich! Um Georg Lukács wird nicht herumkommen, wer sich mit den geistigen Strömungen des zwanzigsten Jahrhunderts beschäftigt. Wiederholt hatte der greise Lukács darauf verwiesen, dass sich das originäre marxistische Denken als kritisch-materialistisches Verfahren erst noch entwickeln müsse. Es wird sich erweisen, ob seine Anhänger zurecht davon überzeugt sind, dass gerade die Vielstimmigkeit seines Werks Weiterführendes birgt.
Volker Strebel in „literaturkritik.de“ (November 2009)
Hier ist die komplette Rezension zu lesen: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=13603
[...] Die dreiundzwanzig Verfasser aus Ost und West folgten dem Aufruf, sich auf eine individuelle »Spurensuche« nach Erinnerungen an Lukács und dessen Bedeutung sowohl für die eigenen Arbeiten als auch für die 68er Bewegung im Allgemeinen zu begeben. In Form von aufgezeichneten Gesprächen, Briefen, philosophischen Abhandlungen, Erinnerungen, Reiseberichten, Tagebucheinträgen eröffnen die Beiträge eine »eigensinnige« (S. 13) autobiographische und literarische Annäherung an Lukács (S. 13) und an ihr »68er Ich« (S. 10). [...] Die breite internationale Fächerung der – häufig sehr persönlich gehaltenen – Beiträge veranschaulicht eindrucksvoll, dass insbesondere die biographische Brisanz und Relevanz seiner Theorien zur internationalen Rezeption von Lukács’ Werken beigetragen hat. [...]. Die hier präsentierte, geographisch breite Rezeption unterstützt die These, dass Lukács in seinem Versuch der methodischen Selbstreflexion im Rahmen der marxistischen Theorie eine personifizierte Brückenfunktion zwischen west- und osteuropäischen marxistischen Gruppierungen übernahm. [...] [D]ieser Sammelband [ist] ein komplexes Lesebuch von Lesenden für Lesende, das »zum Blättern einlädt, um Vertrautes neben Überraschendem, Erfreuliches neben Befremdlichem zu sehen«. Auf diese Weise bietet es einen inspirierenden Einblick in die vielfältigen Lesarten von Lukács.
Friederike Kind-Kovács in „Ungarn-Jahrbuch“ (Band 30, Jg. 2009-2010; 2011)
[...] Der Bd. versammelt Texte von dreiundzwanzig Intellektuellen, die in die westdeutsche Studentenbewegung und ihre Debatten involviert waren oder/und ost- und westeuropäischen marxistischen Gruppierungen angehörten. Die Beiträge erinnern auf unterschiedliche Weise an die Faszination, die damals v.a. von Geschichte und Klassenbewusstsein (GuK, 1923) ausging, und die auch erklärt, warum es sich für die ›Neue Linke‹ anbot, genau auf dieses Buch zurückzugreifen [...]. Warum also Lukács heute lesen? In Südamerika, wo meist eine größere Distanz zum Realsozialismus herrschte und die libertären und kritisch-methodologischen Züge des Marxismus stärker betont wurden, blieb Lukács – bei aller Kritik an ihm – im universitären Diskurs stets ein zentraler Bezugspunkt. So kann eine Antwort des Bd. lauten, dass er Spuren bei Intellektuellen hinterlassen hat, deren Werke heute zum linken Kanon gehören und in denen etwas tradiert wird, was Hg. im Anschluss an Lukács als Aufgabe aufheben möchte: eine »›post-habermasianische kritische Theorie‹ zu formulieren«.
Irenísia Torres de Oliveira in „Das Argument“ (300, 6/2012, Januar 2013)
Eine Spurensuche
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