vergriffen
die griechische insel gavdos, zu homers zeiten hiess sie ogygia, ist der südlichste punkt europas, nur etwa 150 meilen vom afrikanischen festland entfernt.
ogygia war die insel der kalypso, in deren bannkreis odysseus unfreiwillig jahrelang gefangen war. kalypso war, einem mythos zufolge, die tochter des sonnengottes ra. schon deshalb fand sich einer der höchsten leuchttürme der welt auf dieser insel. vierzig meilen weit konnte das feuer schiffen zeichen geben. von den deutschen wurde der lichtspender 1942 in schutt & asche gelegt.
doch kalypso lebt noch. vor jahren ist ein engländer spurlos verschwunden. und ich selbst entging während meines mehrwöchigen inselaufenthalts nur um haaresbreite ihrem männermordenden ansinnen. man sagt: wer nach gavdos fährt, kommt nicht wieder zurück.
„ogygia“ ist ein laut- & lesespiel, das sich in täglichen aufzeichnungen fortschreibt. die antikisierende form vereint beobachtungen, tagebuchnotizen, lesefrüchte, mykologische findelisten, chuftermania, zitate, träume, beschreibungen, begegnungen, pornografische fantasien & eingebungen aus dem reich der hypnagogie. die genitividierung lässt neue wörter auftauchen, die das grundwort entwaffnend interpretieren oder in ganz andere bahnen lenken. „ogygia“ ist eine art odyssee im zweiten fall.
hartmut geerken
ogygia
vom ende des südens
25 gesänge zur verherrlichung des genitivs
AISTHESIS argonauten presse
2004
ISBN 978-3-89528-449-6
133 Seiten
kartoniert
Hartmut Geerken. Autor und Musiker. Lebte von 1963 bis 1984 in der Türkei, in Ägypten, Afghanistan und Griechenland. Mitherausgeber der Reihe Frühe Texte der Moderne. Herausgeber der Werke von Salomo Friedlaender/Mynona, Anselm Ruest, Melchior Vischer, Victor Hadwiger und Sun Ra. Teilnehmer des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie (1978-2002). 1991/92 Inhaber des Poetiklehrstuhls an der Folkwang Hochschule Essen.
Veröffentlichungen in Auswahl: obduktionsprotokoll (1975), sprünge nach rosa hin (1981), holunder (1984), mappa (1988), motte motte motte (1990), poststempel jerusalem (1993), kant (1998), alle im Verlag von Klaus Ramm, Spenge, jetzt: Hamburg.
25 Jahre lang, bis 2002, war das „Bielefelder Colloquium Neue Poesie“ repräsentatives Forum für die experimentelle deutschsprachige Literatur. Ein Vierteljahrhundert konnten wortverliebte Dichter ihre Erfindungen aus den frühen 50ern ihren jüngeren Kollegen und auch der Öffentlichkeit in Veranstaltungen präsentieren.
Hartmut Geerken, von Ernst Jandl, Helmut Heißenbüttel und auch dem Verfasser dieser Rezension gefördert, ist als einer der treuesten „Bielefelder“ bis heute ein Vorreiter der konkreten Poesie geblieben. Geerkens publikumswirksame Sprachstücke sind oft verblüffende Bedeutungsspiele mit Namen. Für das letzte Bielefelder Werbeplakat dichtete er: „eichel hin/eichelhäher“, ein treffliches Beispiel gesellschaftspolitischer Wortwitzsatire.
Geerkens Epigramme und Kalauer erweisen das Sprachspiel als ein poetisches Exempel der Freiheit: „Freiheit vom Sinn, von Eindeutigkeit, Sicheinlassen auf Unsicherheit, offene Vielfalt von Welt, Innenwelt und Geschichte“, wie Klaus Podak es formuliert hat. 1939 geboren, hat Hartmut Geerken von 1963 bis 1984 in vorderorientalischen Goethe-Instituten gearbeitet, ist Mitherausgeber der Reihe „Frühe Texte der Moderne“ und veröffentlicht in kleinen, aber feinen Verlagen.
Jetzt legt der gleichfalls kleine und feine Aisthesis Verlag 25 Gesänge zur Verherrlichung des Genetivs vor: „ogygia. Vom ende des südens.“ Titel und Untertitel, die auf die Insel der Kalypso und die Weltvergessenheit anspielen, versprechen eine köstliche Lektüre für Sprachspielbesessene, Odysseus navigiert auf poetische Weise durch eine Flut von Dichternamen: „die mine des stifts des bleis/ist beim schreiben/ näher am Text/als odysseus kopf“ – und landet bei Max Bense, dem Initiator der experimentellen Dichtung der 50er Jahre, aus dessen Poetik er seine freien Methoden schöpft: „im jazz des pro des benses des schreis/wird er von der heit der frei/überwältigt“.
Achtung, dieses Buch serviert harte Nüsse für Schnell- und Querleser, die auf pure Inhalte aus sind und sich an den schwerverdaulichen Sprachbrocken verschlucken, poetische Leckerbissen jedoch für Liebhaber der Verherrlichung des Genetivs und Sprachrätsellöser. Der neugierige Leger erfährt nach und nach, wie sich aus dem scheinbaren Unsinn ein geheimer Sinn entbindet, dem man mit wachsender Aufregung folgt. Man arbeitet mit am Entstehen einer Poesie, die erst durch eigene Erfindung zustande kommt.
Ludwig Harig in „Saarbrücker Zeitung“, 31.7./1.8.2004
AISTHESIS argonauten presse