Artikel-Nr.: SV-978-3-8498-1548-6
Die Jahre 1936 und 1937 bildeten den Höhepunkt des politischen Engagements Heinrich Manns. Sie waren zugleich bereits der Zeitraum seines Scheiterns – in das er sich jedoch nicht ergab. Gegen die sich ankündigende und dann eintretende „ungeheure Katastrophe“ hielt er es für das Wichtigste, „von Dingen [zu] reden, die sonst jeder gewusst hat“, und für diese Dinge durch die politische Tat einzutreten. Alles andere hatte dagegen zurückzustehen – notfalls selbst die Arbeit an dem großen Roman dieser Jahre, Die Vollendung des Königs Henri Quatre. „Die wahre Rolle des Intellektuellen war es immer, sich auf die Seite der verfolgten Wahrheiten und der grundlos leidenden Menschen zu stellen.“
Seinen Gegnern galt Heinrich Mann als „eines der widerlichsten Individuen der intellektualistischen Gaunerbande“ (so der Franzose Robert Brasillach). Er selbst meinte, er sei „auch ein metaphysisches Tier“ und erläuterte einem italienischen Gefährten: „Gerade mein völliges Vertrauen in den Gegenschlag der Vernunft ist mir Stütze in Prüfungen, die uns gemeinsam sind.“ Wie keiner seinesgleichen versuchte er den Schritt vom kritischen zum konstruktiven Intellektuellen. „Was ich selbst tue, verlang' ich sonst von niemand, besonders von Dir nicht, und oft wird es mir zur Last, daß ich es von mir verlangen muss“, erfuhr der Bruder Thomas.
In den zwei Jahren, die in Band 7 der Edition dokumentiert sind, setzte Heinrich Mann fast doppelt so viele Ausrufezeichen in die Titel seiner Pressebeiträge wie in allen sechsundvierzig vorausgehenden Jahren seiner publizistischen Tätigkeit. In keinem anderen entsprechenden Abschnitt seines Lebens veröffentlichte er in so kurzen Abständen so viele Artikel. Erstmals waren Flugblätter und Tarnschriften Medien zur Verbreitung seiner Texte. Niemals zuvor war er in so begrenzter Zeit Mitunterzeichner so vieler Texte anderer. Der Band sammelt und erläutert diese Aktivität erstmals so umfassend wie möglich.
Das deutsche Volk beschwor Heinrich Mann zu einem Widerstand, den nur sehr wenige leisteten. Der von ihm geleitete Ausschuss zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront blieb ohne politische Organisation des Bürgertums, wurde von der Führung der Exil-SPD boykottiert und zerbrach an dem fehlenden „demokratischen Verantwortungsgefühl“ von Repräsentanten der KPD. Die Sowjetunion erwies sich nicht als der „grösste Versuch der unbedingten Befreiung der Menschen“, für den er sie – „trotz dem Blut und ungeachtet eines notgedrungenen Despotismus“ – nahm. Die Aufrufe zur Solidarität mit der Spanischen Republik verhinderten nicht das Vorankommen der von „Hitlers Umtrieben“ unterstützten Putschisten. Frankreich verweigerte auch unter einer Volksfrontregierung die die geforderten Sanktionen gegen Deutschland sowie das Aufgeben des „Vorurteils, man habe sich nicht einzumischen in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes“, und schloss sich einer Appeasement-Politik an, über deren Zentrum das Urteil im Privatbrief lautete: „England ist durch und durch zum Kotzen.“
Realpolitisch erreichte Heinrich Mann bei unvergleichlich intensivem Einsatz nichts. Man mag hinzufügen: Kein Gegner des Regimes in Deutschland und des aufziehenden Krieges erreichte mehr. Die Essays und Artikel der Jahre 1936 und 1937 könnten allerdings auch nach dem Maßstab nicht allein des Erfolgs, sondern zumindest ebenso des Behauptens der Sittlichkeit und der Vernunft sowie deren Gefährdung durch die Realpolitik besichtigt werden. Dieser Autor hat in immer düsterer werdender Zeit sich behauptet und sich gefährdet, weil er mit aller ihm verfügbaren Kraft eine Realität verändern wollte, die er nicht anerkannte. Wo es ums Ganze gehe, hatte ihm im Krieg 1915 schon Zolas „Kampf für Dreyfus“ bezeugt, sei „erbitterter Idealismus“ gefordert. Über klare wie verfehlte Einzelurteile hinaus erfüllte diese Haltung die Funktion des Intellektuellen: sich mit dem Gegebenen nicht zufriedenzugeben und es an dem zu messen, was sein sollte.
Daten |
Heinrich Mann Essays und Publizistik Kritische Gesamtausgabe in zehn Bänden Herausgegeben von Wolfgang Klein, Anne Flierl und Volker Riedel Band 7: 1936 – 1937 Herausgegeben von Wolfgang Klein 2020 ISBN 978-3-8498-1548-6 2 Bde., zus. 1.227 Seiten Leinen (Exemplare mit leichten Mängeln! - zzgl. Versandkosten) |
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Inhalt |
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Lese-/Hörprobe |
Leseprobe: lp-9783849815486.pdf |
Aus der Kritik |
[...] Aus dem eigenen Land vertrieben, wurde [Heinrich Mann] zu einem der bedeutendsten Repräsentanten des Exils, wortgewaltig, lautstark und mit einem unermüdlichen publizistischen Einsatz für seine politischen Überzeugungen, mit denen er sich vehement gegen das NS-Regime wandte. Spätestens jetzt war aus dem literarischen Autor, dem Romancier ein politischer Publizist und Aktivist geworden, ein Intellektueller, der sich in das Getümmel der politischen Auseinandersetzung geworfen hatte und sich dabei entschieden als Linker, als Parteigänger der Arbeiterbewegung positionierte. [...] Im Kampf gegen den Faschismus gescheitert zu sein, teilt Heinrich Mann mit vielen andern. Das aber, so auch Klein, kann nicht das Maß sein, an dem Heinrich Manns Engagement und Manns Publikationen der Jahre 1936 und 1937 beurteilt werden. Seine Texte wenigstens können zugleich daraufhin gesichtet werden, so Klein, wie in ihnen „Sittlichkeit und Vernunft“ auch unter schwierigen Bedingungen aufrecht gehalten worden und welchen Gefährdungen sie ausgesetzt gewesen seien. Dabei hilft nicht zuletzt der umfangreiche und detaillierte Kommentar, der eben nicht nur Publikationsorte und Textvarianten verzeichnet, sondern eine unerhört große Menge an Dokumenten und Zeugnissen präsentiert, mit denen die Texte Manns erschlossen und kontextualisiert werden können. [...] Band 7 mit den Arbeiten der Jahre 1936 und 1937, ediert von Wolfgang Klein, bringt allein 166 damals veröffentlichte Texte, gedruckt in den Zeitschriften »La Dépêche de Toulouse«, »Die neue Weltbühne«, in Klaus Manns »Sammlung« und anderen Exilblättern, aber auch auf Flugblättern und in Tarnschriften, dazu fünf unveröffentlichte Arbeiten und viele Erklärungen, die er mitunterzeichnet hat. [...] »Die Jahre 1936 und 1937 bildeten nicht nur den Höhepunkt des politischen Engagements des Intellektuellen Heinrich Mann«, schreibt Herausgeber Wolfgang Klein. »Sie waren bereits der Zeitraum seines Scheiterns, in das er sich jedoch nicht ergab.« Die Sätze stehen im Kommentarband, der mit seinen 650 Seiten den Umfang des Textbandes deutlich übertrifft und mit einer unglaublichen Fülle an Informationen, biografischen und historischen Details, Dokumenten, Bezügen und Zusammenhängen immer wieder verblüfft. Klein, der sich auf Vorarbeiten Werner Herdens stützen konnte, liefert nicht nur die unbedingt notwendigen Erläuterungen zu den Heinrich-Mann-Texten, sondern bietet ein kompaktes, in dieser Dichte, diesem Faktenreichtum einmaliges Bild des Autors, seiner Lebensumstände in den beiden Jahren, seiner Einnahmen und finanziellen Verpflichtungen, der Reisen und Funktionen, der Zeitungen und Zeitschriften, für die er schrieb, der Beziehungen zu Willi Münzenberg, Rudolf Breitscheid, Walter Ulbricht, Johannes R. Becher und anderen, natürlich auch zu Frankreich, dessen Sprache und Literaten er seit jeher liebte. […] Heinrich Mann hat nie mehr als in den Jahren 1936 und 1937 an Pressebeiträgen, an Grußbotschaften zu Kundgebungen und Organisationen, an Flugblättern und Tarnschriften veröffentlicht, hat nie so viel in so kurzen zeitlichen Abständen publiziert; und nie zuvor waren seine Äußerungen von so großer politischer und sozialer Aktualität. […] [Der Herausgeber] hat erstklassige Arbeit geleistet. Keinem anderen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts ist mehr editorische Sorgfalt zuteil geworden; selbst die auch gründlich gearbeitete Brecht-Ausgabe wirkt fragmentarisch, was die Erläuterungen angeht, und die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke und Briefe Thomas Manns kommt auch nicht entfernt an gegen die minutiöse Kommentierung der Heinrich Mann‘schen Texte, in die soviel Zeitgeschichtliches hineingekommen ist, dass man allein die Erläuterungen quasi als Geschichtsdarstellung der Jahre 1936 und 1937 in Abbreviaturen lesen könnte. Aber auch die Biographie Heinrich Manns ist so sorgfältig wie ausführlich eingearbeitet. Die beiden Bände sind eine editorische Glanzleistung, die neue Maßstäbe setzt. […] [...] Auch der siebte Band der Gesamtausgabe besticht editorisch durch seine hohe Qualität. Die Texte sind mit großer Kennerschaft zusammengetragen, in ihrer Entstehung und Überlieferung detailliert erfasst und sachkundig in einer beeindruckenden Vielfalt erschlossen. [...] [...] [D]er Kommentar, der den Textteil an Umfang deutlich übertrifft, [ist] eine unerschöpfliche Fundgrube historischer, publizistischer und biographischer Details. Er benennt für jeden Text die Druckvorlage, bietet eine Entstehungs- und Textgeschichte, listet die zeitgenössischen Überlieferungsträger und Übersetzungen auf, stellt deren Varianten dar und bietet einen eingehenden Stellenkommentar. Mit bewundernswerter Akribie hat Klein alle möglichen Archive ausgewertet, um Entstehungskontext und Publikationsgeschichte noch des unscheinbarsten Aufrufs aus der Feder Heinrich Manns zu rekonstruieren. [...] Vor allem in den Kommentaren zu solchen Texten, die im Umkreis der Volksfrontbewegung entstanden sind, gehen seine Ausführungen über den bisherigen Stand der Forschung weit hinaus und wachsen sich zu eigenständigen historischen Aufsätzen aus. [...] |
Reihe |
Essays und Publizistik Kritische Gesamtausgabe in zehn Bänden Herausgegeben von Wolfgang Klein, Anne Flierl und Volker Riedel |