25 Jahre lang, bis 2002, war das „Bielefelder Colloquium Neue Poesie“ repräsentatives Forum für die experimentelle deutschsprachige Literatur. Ein Vierteljahrhundert konnten wortverliebte Dichter ihre Erfindungen aus den frühen 50ern ihren jüngeren Kollegen und auch der Öffentlichkeit in Veranstaltungen präsentieren.
Hartmut Geerken, von Ernst Jandl, Helmut Heißenbüttel und auch dem Verfasser dieser Rezension gefördert, ist als einer der treuesten „Bielefelder“ bis heute ein Vorreiter der konkreten Poesie geblieben. Geerkens publikumswirksame Sprachstücke sind oft verblüffende Bedeutungsspiele mit Namen. Für das letzte Bielefelder Werbeplakat dichtete er: „eichel hin/eichelhäher“, ein treffliches Beispiel gesellschaftspolitischer Wortwitzsatire.
Geerkens Epigramme und Kalauer erweisen das Sprachspiel als ein poetisches Exempel der Freiheit: „Freiheit vom Sinn, von Eindeutigkeit, Sicheinlassen auf Unsicherheit, offene Vielfalt von Welt, Innenwelt und Geschichte“, wie Klaus Podak es formuliert hat. 1939 geboren, hat Hartmut Geerken von 1963 bis 1984 in vorderorientalischen Goethe-Instituten gearbeitet, ist Mitherausgeber der Reihe „Frühe Texte der Moderne“ und veröffentlicht in kleinen, aber feinen Verlagen.
Jetzt legt der gleichfalls kleine und feine Aisthesis Verlag 25 Gesänge zur Verherrlichung des Genetivs vor: „ogygia. Vom ende des südens.“ Titel und Untertitel, die auf die Insel der Kalypso und die Weltvergessenheit anspielen, versprechen eine köstliche Lektüre für Sprachspielbesessene, Odysseus navigiert auf poetische Weise durch eine Flut von Dichternamen: „die mine des stifts des bleis/ist beim schreiben/ näher am Text/als odysseus kopf“ – und landet bei Max Bense, dem Initiator der experimentellen Dichtung der 50er Jahre, aus dessen Poetik er seine freien Methoden schöpft: „im jazz des pro des benses des schreis/wird er von der heit der frei/überwältigt“.
Achtung, dieses Buch serviert harte Nüsse für Schnell- und Querleser, die auf pure Inhalte aus sind und sich an den schwerverdaulichen Sprachbrocken verschlucken, poetische Leckerbissen jedoch für Liebhaber der Verherrlichung des Genetivs und Sprachrätsellöser. Der neugierige Leger erfährt nach und nach, wie sich aus dem scheinbaren Unsinn ein geheimer Sinn entbindet, dem man mit wachsender Aufregung folgt. Man arbeitet mit am Entstehen einer Poesie, die erst durch eigene Erfindung zustande kommt.
Ludwig Harig in „Saarbrücker Zeitung“, 31.7./1.8.2004
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