Aus der Kritik |
Dieses Buch sollten Sie mit auf Ihre Insel nehmen: das „Wörterbuch des Müssiggängers“. Die Literaturwissenschaftlerin Gisela Dischner weiss, wovon sie schreibt. In ihrer Vita heisst es: „Gisela Dischner verbringt heute einen Teil des Jahres auf Mallorca, den anderen in Hannover.“ Damit hat sie mussetechnisch gesehen den Bogen raus. Jahrelang war in Gisela Dischners Vita der bedrückende Satz zu lesen gewesen: „Sie lebt und arbeitet in Hannover.“ Heute wechselt sie behende zwischen den Klimazonen und macht damit beides erträglich: Hannover und Mallorca. Die geistesgeschichtlich klug angereicherten Stichworte in diesem Wörterbuch wollen all denen Mut machen, die das Gefühl haben: Es geht nicht mit Hannover, aber auch nicht ohne. Der Müssiggänger erzwingt nichts. Er lässt die Dinge auf sich zukommen, sprungbereit wartet er auf den rechten Augenblick, den „kairos“. Unter diesem Schlüsselstichwort lesen wir: „Zu einer Moral der Musse gehört die Sensibilität und Empfangsbereitschaft für den kairos, den zeitaufhebenden Augenblick der Gegenwart. Der rechte Augenblick kann einer des Umschlags sein in eine neue Weise der Wahrnehmung und der daraus resultierenden Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit. Aristoteles sieht im kairos die Gunst der Stunde, den geeigneten Augenblick zum Handeln. Der kairos lässt sich niemals willentlich fangen. Er entzieht sich jedem Zugriff, er nähert sich dem aufmerksam Hingebungsvollen.“ Statt irgendwie durch den Tag zu huddeln, sieht sich der Müssiggänger in eine Traum-Landschaft gestellt, die er als Rollenspieler bewohnt. Zum Stichwort Rollenspiel heisst es: „Der Müssiggänger tarnt seinen Rückzug in die eigene Gedankenwelt durch ein soziales Rollenspiel des scheinbaren Eingehens auf den small-talk, der ihn umgibt. Er nickt lächelt, sagt vorwiegend Zustimmendes und ist höflich.“ Keine Frage: Das ist eines der raren Bücher, mit denen Sie überall gut durchkommen.
Christian Geyer in „FAZ“ vom 22.7.2009
Gisela Dischner am 11. Juli 2009 im Interview mit den „Salzburger Nachrichten“:
Gerade noch hat Gisela Dischner bei den Salzburger Anstössen 2009 zwei intensive Tage lang ihr Konzept des Müssiggangs vorgestellt. In 90 Minuten startet ihr Flugzeug nach Hause, nach Mallorca. Dort will sie an der Präsentation ihres aktuellen Buches weiterarbeiten.
Schaut so Müssiggang aus?
Ja, denn Gisela Dischner macht diese Arbeit freiwillig. Befehlen lässt sie sich schon lang nichts mehr. „Wir haben massig Zeit“, sagt sie vor dem SN-Interview und bestaunt zunächst einmal ausgiebig das herrliche Panorama. „Alles da, was ein Mensch braucht. Und der Kaffee hier ist sagenhaft.“ Inmitten der Krise bringen Sie 2009 das „Wörterbuch des Müssiggängers“ heraus. Wollen Sie damit provozieren? Und wenn ja, wen? Dischner: Provozieren will ich nicht. Ich propagiere keine Gegenbewegung, schliesslich ist die Frage nach der Musse eine hochpolitische. Es ist Politik, dass die Musse verboten wird. Die Kunst des Müssiggangs ist verpönt, politisch und sozial verdächtig! Ich propagiere die Musse als Gegenpolitik zur Fremdbestimmheit und zu einer Freizeitkultur, die lediglich der Reproduktion der Arbeitskraft dient. Musse ist jenseits der Welt der Arbeit angesiedelt. Es wird in Zukunft immer mehr freie Zeit und immer weniger Arbeit geben: Die Menschen werden den Umgang mit der Musse lernen, üben und erfahren müssen. Ich will zeigen, dass ausserhalb der Welt der Arbeit das Leben als Selbstverwirklichung möglich ist. Es gibt zwei Pole. Einerseits die Erwerbsarbeit und die Freizeit und andererseits die freie bewusste Tätigkeit und die Musse. Wenn die Freizeitindustrie boomt, und das berichten die Fachleute, wozu braucht es dann den Müssiggang? Es gibt gut besuchte Fitnessstudios, es gibt unzählige Vereine, es gibt eine breit gefächerte Freizeitindustrie. Worin besteht der Unterschied zwischen Freizeit und Musse? Dischner: Freizeit ist ein erweitertes Geschäftigsein. Dabei kann es sich um den Freizeitsport handeln oder um den passiven Medienkonsum, den Konsum ganz allgemein. Beides hat nichts Schöpferisches in und an sich. Geschäftigsein in der sogenannten freien Zeit hat nichts mit Müssiggang zu tun! Wer heute zugibt, sich in der Kunst des Müssiggangs zu üben, wird sofort beschuldigt, faul und nicht arbeitswillig zu sein. Der Ausspruch „Müssiggang ist aller Laster Anfang“ zeigt deutlich, wie negativ heute die Musse bewertet wird. Nichtstun oder Faulsein sind keine Entsprechungen für Musse, die ich als produktives Nichtstun ganz im Sinne der „scholè“ des Aristoteles definiere. Können Sie Müssiggang mit wenigen Begriffen beschreiben? Dischner: entspanntes Loslassen, Fähigkeit zu zenhafter Konzentration, energiegeladenes Wahrnehmen mit allen Sinnen. Müssiggänger sind schöpferisch und denken – unabhängig von ihrem Alter. Bereits 1986 haben Sie ja mit Ihrer Forderung: „Drei-Tage-Woche für alle. Der Mensch ist kein Arbeitstier“ für Schlagzeilen gesorgt. Sie als Intellektuelle haben schon damals gewagt, den Fetisch Arbeit infrage zu stellen. Wie waren die Reaktionen der Betroffenen? Jener Menschen, die nach Ihrer Definition nicht selbstbestimmt arbeiten? Dischner: Klar kamen Anfeindungen. Man beschimpfte mich, dass ich mir als Professorin für Germanistik anmasse, die Drei-Tage-Woche zu fordern. Die Beschimpfungen kamen besonders von Menschen, die schlecht bezahlt sehr viel arbeiten mussten. Die im Gegensatz zu mir nicht selbstbestimmt forschen und arbeiten konnten bzw. durften. Die, für die ich mich im Grunde stark gemacht hatte, empfahlen mir, doch Latrinen putzen zu gehen. Sie meinten, dass ich, die abgehobene Professorin im Elfenbeinturm der Literatur, dann endlich begreifen würde, was schwere Arbeit eigentlich bedeutet. Da ich auf dermassen starke Aggressionen traf, muss ich damals wohl einen Nerv der Menschen getroffen haben. Aber nach wie vor gilt: Lediglich etwa zwei Prozent der Menschen in Deutschland arbeiten selbstbestimmt, ich gehörte und gehöre dazu. Das ist mir sehr wohl bewusst. Sie leben jetzt auf Mallorca im Vorruhestand, Sie veröffentlichen Bücher, reisen zu Vorträgen. Beherrschen Sie selbst die Kunst des Müssiggangs? Dischner: Ich bin in den Vorruhestand getreten, als mir immer öfter Studenten und Studentinnen begegneten, die nur noch mit Blick auf ihre mögliche Karriere und nicht aus Lust auf die grösstmögliche Erkenntnis ihr Studium absolvierten. Die Statistik teilt uns mit, dass jeder siebente Student und jede siebente Studentin in Deutschland an Depressionen leidet, die Strapazen der Generation Praktikum sind enorm. Da bin ich mit Bezügeeinbussen freiwillig gegangen. Ja, ich bin eine Müssiggängerin. Ich teile mich, oder besser gesagt, ich teile mir meine Zeit ein, die Zeit der Gartenarbeit, die Zeit des Schreibens, die Zeit der Siesta. Menschen, die sich selbst entfremdet sind, beginnen allmählich, die Kunst der Musse zu erlernen. Musse ist nicht Faulheit, sondern produktives Nichtstun.Ihr aktuelles Buch trägt den Titel „Wörterbuch des Müssiggängers“. Das ist bei Ihnen als Feministin kein Zufall – warum sehen Sie die Zeit der Müssiggängerin als noch nicht gekommen? Dischner: Die männliche Form habe ich bewusst gewählt, nicht zur grossen Freude zahlreicher Feministinnen. Frauen sind aus sozialen-gesellschaftlichen Gründen ständig beschäftigt, in der Erwerbsarbeit, in der überwiegend noch immer unbezahlten Versorgungsarbeit. Sie erscheinen mir vom Müssiggang weiter weg zu sein als Männer. Die Müssiggängerin ist für mich eine ersehnte Gestalt der Zukunft. An sich ist der Müssiggänger androgyn, es ist ein Zustand, in den Männer wie Frauen kommen können. Derzeit haben Frauen noch die schlechteren Zugänge dazu. Haben Sie Tipps, wie Menschen die Kunst des Müssiggangs erlernen oder sich darin üben können? Dischner: Ich denke nicht an Kurse und spezielle Tipps. Auch Rezepten gegenüber bin ich skeptisch, schliesslich ist das Nichtstun ja eine Voraussetzung des Müssiggangs. Wenn die Menschen ganz Wahrnehmung werden, tun sie zwar nichts, aber sie tun ganz viel. Sie nehmen nämlich dauernd wahr: Müssiggänger sind schöpferisch und denken. Das tun Kinder, wenn man sie in Ruhe lässt? Heute haben Kindergartenkinder ebenso volle Terminkalender wie ihre Eltern, wie Manager. Ihnen wird früh das Loslassen abgewöhnt, die Hingebung an den Augenblick wird als Träumerei abgetan und abgewertet. Der Müssiggang ist die Voraussetzung einer spielerischen Haltung dem Leben gegenüber, er ist aller Lüste – oder wie es Christa Wolf formuliert – aller Liebe Anfang.
[...] Zeit und Musse sind Voraussetzungen für den eigenen weiblichen Entwurf und den eigenen Weg zur Kreativität. Die Fragen, wie möchte ich mein Leben gestalten, was möchte ich mit meinem Leben tun, lassen sich nur mit Musse und in der Reflexion beantworten. All das macht die Musse so erstrebenswert und deshalb wird über sie nachgedacht. Auffällig ist, dass sich kaum Frauen an der so genannten Entschleunigungsbewegung beteiligen. Der weibliche Ruf nach Musse ist (noch) unerhört. Über die geschlechtsspezifische Übung des produktiven Nichttuns liegt bislang keine empirische Untersuchung vor. Geschichtlich und sozialpsychologisch ist es erklärbar, dass der Müssiggang ein Vorrecht des Mannes war. "Meine persönliche Erfahrung ist, dass Männer viel mehr zum Müssiggang neigen", so Gisela Dischner, die bei Frauen eine Unfähigkeit zur Musse feststellt und den Müssiggänger in ihrem Buch bewusst männlich gezeichnet hat. Auch das Moment des Spielerischen entdecke sie eher bei Männern. Die Müssiggängerin ist eine Gestalt der Zukunft.
Gerlinde Knaus in „ausreisser“ (29. Juli 2009)
Der komplette Text: http://ausreisser.mur.at/ausgaben/29-juli-august-09/die-kunst-der-musse/
Gerlinde Knaus in „wolfsmutter.com“ (http://wolfsmutter.com/artikel1302)
[...] Das „Wörterbuch des Müssiggängers“ ist eine literarische Fundgrube für Frauen und Männer und meiner Meinung sogar eines der wichtigsten Lehrbücher unserer Zeit. Es lehrt uns, ohne dabei belehrend zu sein, „die grösste Kunst. Die Kunst zu leben“ (Novalis). [...] Das Wörterbuch beinhaltet eine atemberaubende Vision: ein alternatives Lebensmodell zum arbeitszentrierten. Dabei handelt es sich keineswegs um einen anbiedernden Ratgeber oder Leitfaden, der zeigt, wie man in zehn Schritten Zeiteffizienz erlernt, um eingesparte Zeit wieder „effizient zu nutzen“. [...] Das Werk ist durch und durch politisch: es erweitert den inneren Raum des/der Lesenden - den Raum, wo Widerstand gegen die Zumutungen des Alltags wachsen kann. Dieser Widerstand richtet sich gegen die derzeit vorherrschende Arbeitsmoral des neoliberalen Turbokapitalismus, der nahezu alle Lebensbereiche der Menschen vereinnahmt. Aktuelle gesellschaftspolitische Fragen, wie etwa Überlegungen zum Grundeinkommen für „Wohnfrau/mann“ sind ganz im Sinne des Müssiggängers, der es auf den Punkt bringt: „Vollbeschäftigt mit der Kunst des Müssiggangs - zu Hause. Mit der Wohnfrau/bzw. dem Wohnmann und der Musse würde ein neues Kapitel in der geschrieben werden, denn die „Einheit von Leben, Arbeit und Kultur würde auf einer neuen Ebene wieder hergestellt werden. (S 99). Fazit: Das Wörterbuch ist ein eindringliches Plädoyer für eine Mussegesellschaft.
Gerlinde Knaus in „dieStandard.at“ (25.8.2009)
Die vollständige Rezension: http://diestandard.at/fs/1250691167117/Rezension-Woerterbuch-des-Muessiggaeng
[...] Das Buch sprengt verkrustete Ansichten oder Gewohnheiten, über die man sich vielleicht gar nicht bewusst ist. Sein tiefes Wissen kommt so nonchalant daher, dass die Lektüre nur eines ist: pure Freude. So liest man beim Stichwort Natur: »Über Gras geht er [der Müssiggänger] am liebsten barfuss.«
Dringende Leseempfehlung!
Matthias Pierre Lubinsky in „webcirtics.de“ (24.09.09)
Die komplette Rezension: http://webcritics.de/page/book.php5?id=3017
[...] Kein Wunder, dass der Dandy einen der längsten Texte in dem Wörterbuch hat. Man merkt der belesenen Autorin geradezu ihre Freude an, ihren inneren Müssiggänger am Dandy zu reiben. – Auch wenn wir nicht mit allem einverstanden sind: Dieses Stichwort ist quasi eine kleine Geschichte des Dandytums. Für alle, die den Urgrund der Entscheidung zum Dandyleben verstehen möchten oder für den, der noch ein wenig Unterstützung gebrauchen kann: Kaufbefehl!
Matthias Pierre Lubinsky in seinem blog „dandy-club“ (http://www.dandy-club.blogspot.com/)
[...] Das Buch kann man eigentlich immer lesen, denn Gisela Dischner schreibt den Entwurf für eine andere Gesellschaft.
Silke Kehl in „Scala“ (WDR 5, 16.12.2009)
Gisela Dischners „Wörterbuch des Müssiggängers“ ist eines jener seltenen Bücher, die zugleich zeitbezogen und zeitlos sind. Indem es zeitbezogen ist, hebt es sich wohltuend vom alles vereinheitlichenden Kulturbrei der Medien ab, da es noch über Kriterien der Gesellschaftskritik verfügt, die von den tonangebenden Kulturträgern in den Medien und der Politik aber auch im Kulturbetrieb selbst, nicht wirklich gern gesehen werden, deshalb um so nötiger gebraucht werden. Zeitlos ist es nicht zuletzt durch die unglaubliche Belesenheit der Autorin, einer Literaturprofessorin aus Hannover, die uns sinnfällig vor Augen führt, dass es auch eine Tradition des Widerstands des Geistes gibt und eine natürliche Religiösität der Seele, die auf Priester und organisierte Religionen verzichten kann. Alphabetisch geordnet bietet sich dieses Wörterbuch jedoch auch zum Blättern und Querlesen an und verlangt keinen Leser, der auf Seite 1 beginnt und sich dann durcharbeitet. Ich kann dieses Buch all jenen empfehlen, die angesichts der herrschenden Verhältnisse allen öffentlichen Meinungsmachern skeptisch gegenüberstehen und die nach alternativen geistigen Impulsen Ausschau halten, ohne sich irgendeinem selbsternannten Heilsbringer oder Guru unterwerfen zu wollen.
M. Gehrmann (Kundenrezension bei „amazon.de“, 16.12.2009)
Eine hochinteressante Idee, den Müssiggänger per se zu konstruieren und dann zu jedem Stichwort seine Meinung äussern zu lassen! […] Dieses Buch soll und muss langsam und genussvoll gelesen werden! Man kommt ohnehin nicht darum herum, es immer wieder staunend sinken zu lassen und die vielen Ideen auf sich wirken zu lassen. Der Müssiggänger als geistiger Flaneur, dessen Freunde vom Rest der Welt oft als gescheiterte Existenzen angesehen werden, weil sie sich dem Leistungszwang (oder besser Leistungsfetisch) der Gesellschaft nicht unterwerfen wollen. Gebildet, sensibel, empfindsam, ein wenig schwatzhaft und absolut liebenswert! Dieses Buch hält, was es im Gegensatz zu vielen anderen nie versprochen hat: es verändert die Weltsicht des Lesers. […]
LeserInnenrezension (Para_Noir) bei „amazon.de“ (4. Februar 2012)
Stefan Brams von der Neuen Westfälischen rät in der Zeit der Corona-bedingten Musse zur Lektüre des „spielerisch-subversiven“ Wörterbuchs des Müssiggängers von Gisela Dischner, das 2009 bei Aisthesis erschienen ist: „[e]in anregendes Buch, das viele Argumente für den Ausstieg aus unseren stressigen Routinen liefert. [...] Gerade jetzt erscheinen [Dischners] Gedankengänge aktueller denn je.“
Neue Westfälische (17.3.2020)
|