Die Mehrzahl der im Internet abrufbaren Literatur ist in einem traditionellen Schreibprozess entstanden – Printtexte in digitalisierter Form. Selbst die dem Computer zugeschriebene Cut & Paste-Technik – ausschneiden und wieder zusammenfügen – hat ihr Vorbild in dem traditionellen, "analogen" Montageverfahren. Hypertext, also die Verbindung von Textfragmenten durch frei wählbare Verknüpfungen existiert auch in Papierform, ebenso eine multimediale Verbindung von Text und Bild. Was aber kennzeichnet im Gegensatz dazu eine originäre "digitale Literatur", auch Netzliteratur oder Internet-Literatur genannt, welche die technischen Möglichkeiten des neuen Mediums auch literaturästhetisch zu nutzen versucht?
Das qualitativ Neue einer "digitalen Literatur" entsteht, wenn literarische Texte mit Programmelementen versehen werden, um kinematographische Bewegung oder mimetische Effekte zu erzeugen. Als digitale Rechenmaschine stellt der Computer eine Technik der Informationsverarbeitung dar, die für verschiedene semiotische Systeme, ob Schrift, Bild oder Ton, gleichermassen geeignet ist. Insofern ist eine Aufhebung der Grenzen zwischen Bild, Literatur und Musik bereits im Medium angelegt und die stetig komplexer werdende Arbeiten schöpfen diese Möglichkeiten durch die Verbindung von Text, Ton und Bild auch zunehmend aus. Prädestiniert sind Computer zur Generierung kombinatorischer Literatur, d.h. der Rekombination von Textelementen nach einem vorher bestimmbaren oder auch aleatorischen, zufallsgesteuerten Prinzip.
Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge widmen sich der ästhetischen Dimension einer digitalen Literatur, die eine Reihe von Fragen aufwirft: nach der Definition von digitaler Literatur, ihrer ästhetischen Innovation und Qualität, das Verhältnis von Aufschreibesystem Computer/Internet und narrativer Struktur, von literarischer Produktion und Rezeption.