Der Begriff Provinz muss in der Literatur nicht unbedingt abwertend gemeint sein. Regional verortete Texte vermögen im Idealfall, den Leser ganz nahe an die eigentliche Befindlichkeit der Menschen heranzurücken. Diesem Blick aus dem Fenster vor die Tür gilt, fern jeglicher Heimattümelei, das kritische Interesse in der neu erschienenen „Chronik der westfälischen Literatur 1945-1975“: grossformatig, unübersehbar, 911 Seiten in zwei Bänden, ein editorisches Statement, das sich nicht flugs ins Bücherregal einordnen lässt. [...] Die Chronik vereint die bereits bekannte Geschichte mit bisher übersehenen Aspekten der westfälischen Literatur [...] Fern allem Fachchinesisch weckt die bewundernswerte Fleissarbeit der Herausgeber Neugier auf eine Literaturlandschaft, die ihren Platz zumeist eher in zurückhaltenden Erkundungen denn im grellen Licht der Schlagzeilen findet. Und natürlich stellt sich die Frage: Wie geht's eigentlich weiter nach 1975? Fortsetzung erwünscht.
Werner Streletz in „Westfalenspiegel“ (2/2016)
Die Literaturkommission für Westfalen ist ein vorzügliches Beispiel dafür, welch wichtige Rolle literarische Gesellschaften für die Förderung und Erforschung regionaler Literatur spielen. Ablesen lässt sich das nicht zuletzt an den Bänden der seit 1999 bestehenden Reihe ihrer Veröffentlichungen, in der in den beiden Unterreihen bis Mitte 2016 nicht weniger als 66 Bände erschienen sind. [...] Die Chronik beabsichtigt, „das Material in möglichster Vollständigkeit zu sammeln und zu strukturieren“ und befasst sich dazu keineswegs bloss mit gedruckten und sonstigen literarischen Zeugnissen, sondern vorzüglich mit dem literarischen Leben Westfalens in seiner ganzen Breite, also, willkürlich aufgereiht, mit Literaturpreisen und den sie auslobenden Institutionen, anderen Formen institutioneller Förderung, literarischen Werkstätten, Dichtertreffen, literarischen Gruppierungen unter Berücksichtigung sowohl der Arbeiten für Rundfunk, Fernsehen und das Theater als auch aller literarischen Richtungen, von der in Westfalen „von jeher starken Heimatdichtung“ über Arbeiterliteratur und Mundartdichtung bis hin „zu einer literarischen Galionsfigur“ wie dem „abstrakte[n] Lyriker Ernst Meister,“ dem 1979 postum der Büchnerpreis verliehen wurde. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Chronik die Auseinandersetzung zwischen konservativen und progressiven Kräften: die braune Tradition der westfälischen Literatur brach keineswegs mit dem Ende des Dritten Reiches ab, konnte doch die „Autorengeneration, die offen mit dem Nationalsozialismus sympathisiert hatte,“ auch „nach 1945 zunächst unbehelligt weiter publizieren“, wurde dann aber „spätestens mit dem Schmallenberger Dichterstreit 1956 zur Abdankung gezwungen.“ [...]
Klaus Schreiber in „Informationsmittel für Bibliotheken“ (IFB, August 2016)
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