Ein Literat – damit ist doch schon alles gesagt? –, aber nein, noch mehr: ein Dandy, ein Anarchist, ein Antifaschist, ein früher, vielleicht schon postkolonialer Autor, ein Kunstkritiker und Kunsthistoriker. Was könnte man Schlimmeres über einen Intellektuellen des frühen 20. Jahrhunderts sagen, der sich – anscheinend – weder an die Grenzen des guten Geschmacks noch an nationale Grenzen noch an das, was bis dahin als Kunst zu gelten hatte, gebunden fühlte. Dass ein Intellektueller, der sich der Avantgarde zuwandte, starke Affinitäten zu Frankreich und zur neuen französischen Kunst haben musste, ist wohl kaum verwunderlich. Die Radikalität aber, mit der sich Carl Einstein (1885–1940) seinen Themen widmete, hat ihm bis heute den Ruf eines enfant terrible eingetragen, und die Faszination, die vom Werk, aber eben auch von der Person Carl Einstein ausging, groß gehalten. Welcher Autor, gleich welchen Geschlechts, könnte sich ein derartiges Werkkompendium zuschreiben wie Carl Einstein: einen avantgardistischen Roman (Bebuquin), ein Monument der Kunstgeschichtsschreibung der Klassischen Moderne (Die Kunst des 20. Jahrhunderts) und zwei schmale, aber fulminante Bände zur afrikanischen Plastik (Negerplastik und Afrikanische Plastik), mit denen er die afrikanische Kunst aus dem ethnologischen und kolonialen Gefängnis befreite und als Kunstform etablierte.
Es wurde also höchste Zeit, dass sich der JUNI auch mit Einstein beschäftigt – und Gelegenheit macht Diebe: Denn dem facettenreichen Wirken Carl Einsteins widmeten sich zwei internationale Tagungen, deren Ergebnisse in diesem JUNI erscheinen: 2017 lud Maria Männig, unterstützt von Sebastian Baden, zu Carl Einstein Re-Visited: Die Aktualität seiner Sprache, Prosa und Kunstkritik nach Karlsruhe ins ZKM | Zentrum für Kunst und Medien sowie ins Museum für Literatur am Oberrhein ein. 2020 kamen Wissenschaftler*innen auf Einladung von Jasmin Grande und Eva Wiegmann im Kultur Bahnhof Eller in Düsseldorf zusammen, um Carl Einstein im Kontext neuer Avantgardetheorien zu reflektieren.
In Verbindung beider Tagungen präsentiert der JUNI eine Reihe von neuen Perspektiven auf Einstein. Darüber hinaus bildet das Gesamt der Beiträge den aktuellen Forschungsstand in Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften ab. Carl Einstein ist mit seinem facettenreichen Werk bis heute aktuell; an ihm können die Disziplinen ihre Fragestellungen schärfen, er markiert die Differenz zu den Erwartungen vor 100 Jahren, seine Rezeption ist Teil der Genese geisteswissenschaftlicher Disziplinen und Turns. Bereits im November 2021 erschien ein Teil der Beiträge der Düsseldorfer Tagung in der Zeitschrift Expressionismus bei Neofelis. Hier lag der Schwerpunkt auf den Avantgardetheorien. Der zweite Tagungsteil wird nun endlich gemeinsam mit den aktualisierten und modifizierten Beiträgen aus der Karlsruher Tagung der Öffentlichkeit vorgelegt. Um zusätzliche Texte ergänzt, erscheint die vorliegende Publikation in diesem Heft des JUNI Magazins.