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Nie in der jüngeren deutschen Geschichte traten Zensur und Überwachung des literarischen Lebens so massiv auf wie im Preußen des 19. Jahrhunderts. Zahlreiche Behörden und Verwaltungsstufen waren in die Unterdrückungs- und Steuerungsprozesse verstrickt, jeder Verbotsfall gab Anlass zu zahlreichen Hin- und Rückbriefen, zu An- und Hinweisungen an höhere oder niedere Dienststellen. Im zentralistisch regierten Flächenland Preußen gingen die Ordres aus Berlin weite Wege, zunächst zu den Oberpräsidenten der Provinzen, von da an die Regierungspräsidenten, Landräte oder Bürgermeister der einzelnen Orte. Das Ergebnis war eine Behördenkorrespondenz, die sich in Hunderten von Aktenmetern misst.
In der Literatur- und Kulturwissenschaft sind diese Bestände noch nicht oder nur sehr geringfügig aufgearbeitet worden, obwohl sie die Zensurforschung auf ein ganz neues Fundament stellen würden - weg von den Einzelfällen (wichtigen Autoren und deren persönlicher Zensurgeschichte) hin zur Erfassung der institutionellen Mechanismen. Wenig bekannt ist etwa, dass die Gängelung von Literatur und Presse nach Wegfall der Zensur noch erheblich forciert wurde und bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts fortdauerte. Selbst der Begriff der Zensur ist keineswegs abschließend definiert; was genau das eigentlich ist, welche Prozesse am Werke waren, ist bislang kaum in ausreichender Detailliertheit erforscht worden. Der vorliegende Band unternimmt den Versuch, den Zensurbegriff klarer zu konturieren und das damit verbundene Verwaltungssystem auf Basis der archivalischen Quellen zu rekonstruieren.
Bernd Kortländer / Enno Stahl (Hgg.)
Zensur im 19. Jahrhundert
Das literarische Leben aus Sicht seiner Überwacher
2012
ISBN 978-3-89528-890-6
269 Seiten
kartoniert
Enno Stahl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rheinischen Literaturarchiv des Heinrich-Heine-Instituts. Er ist Verfasser zahlreicher belletristischer und wissenschaftlicher Publikationen, zuletzt u.a.: „Literarisches Leben am Rhein. Quellen zur literarischen Infrastruktur 1830-1945“, 3 Bde., 2008 sowie Herausgeber von „Partei, Partei, wer wollte sie nicht nehmen...“. Texte rheinischer und westfälischer Autoren in Vormärz und Revolution (mit B. Füllner), 2008; Vormärzlyrik, CD (mit B. Füllner), 2008; Kulturelle Überlieferung: Bürgertum, Literatur und Vereinswesen im Rheinland 1830-1945 (mit B. Kortländer und C. Ilbrig), 2008.
Bernd Kortländer ist stellvertretender Direktor des Heinrich-Heine-Instituts Düsseldorf und Honorarprofessor an der Heinrich-Heine-Universität. Er ist Verfasser und Herausgeber zahlreicher Bücher und Aufsätze zu Heinrich Heine, Annette von Droste-Hülshoff, zur Literatur- und Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, zum deutsch französischen Literaturtransfers und zur Literatur und Kultur des Rheinlands (u.a. Annette von Droste-Hülshoff. Hist.-krit. Ausgabe. Bd. II. 1994/98; Nationale Grenzen und internationaler Austausch. Literatur - Geschichtsschreibung - Wissenschaft. 1995; Rheinisch. Zum Selbstverständnis einer Region. 2001; Heinrich Heine. 2003; Baudelaire und Deutschland. 2005; Mendelssohn in Düsseldorf, 2009).
Leseprobe: 9783895288906.pdf
Die beiden Herausgeber des Bandes Zensur im 19. Jahrhundert [beide sind Mitarbeiter des Heinrich-Heine-Instituts,] wollen die Zensurforschung auf ein neues Fundament stellen: weg von den Einzelfällen, hin zur systemischen Erfassung institutioneller Mechanismen. Wie funktioniert Zensur? Welchen Zielen diente sie? Und welche Mittel setzte sie ein? Antworten geben vor allem archivalische Quellen. Das ist spannender, als es auf den ersten Blick erscheint. Die Akten der Zensurbehörden geben darüber hinaus auch beste Einblicke in die Entwicklung des Verlagswesens, der literarischen Vereine und der Verbreitung von Literatur im 19. Jahrhundert überhaupt.
David Eisermann in „Mosaik“ (WDR 3, 22.2.2012)
Den Audio-Beitrag gibt es hier: http://www.wdr3.de/mosaik/details/artikel/wdr-3-mosaik-82616ac130.html
In seinem Aufsatz „Zahnlücken der Zeit“ folgt [Plachta] den Spuren realer und fiktiver Zensureingriffe vom späten 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Dabei interessiert ihn vor allem die Phänotypie der Tilgungen, die manche Druckseiten in etwas verwandelten, das eher „Fisches Nachtgesang“ von Christian Morgenstern gleicht. Denn das, was ausgemerzt werden sollte, blieb sichtbar: Lücken, Striche und Sternchen, Punkte und Einschwärzungen kennzeichneten chiffrierte Namen und Passagen, in denen Erotisches, politisch Unliebsames oder Religionskritik eliminiert worden waren. […] Ohne sichtbare Zensur keine so sensiblen Leser und keine so erfindungsreichen Verleger wie Autoren, siehe Heine. Zensur wird von der Forschung also nicht mehr nur als negativ wirkende Institution beschrieben, sondern als konstitutiver Teil eines literarischen Feldes. […]
Ursula Scheer in „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (16.05.2012)
[…] Die Zensurthematik ist ein weites, oft schwer zu überblickendes Forschungsfeld, das sich zudem aufgrund der meist schwer zugänglichen Quellen als ein schwieriges Terrain entpuppt. Der vorliegende Sammelband ist als ein eindrucksvoller Beweis zu werten, dass sich die mühsame und zeitintensive Recherche in Archiven und Aktenkonvoluten auszahlt, um den Bereich der reinen anekdotenhaften Abhandlung von Zensur zu verlassen und die tatsächliche Arbeitsweise der Zensurinstanzen und ihre realen Auswirkungen auf die Autoren, die Verleger, die Buchhändler, ja auf das kulturelle Leben einer Gesellschaft insgesamt zu beleuchten.
Barbara Tumfart in „literaturkritik.de“ (April 2012)
Die vollständige Rezension: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=16520
The volume is thoroughly reseached and consistently lively and informative. If anyone out there is a getting a little tired of »theory«, here is a chance to learn some real stuff.
Jeffrey L. Sammons in „Monatshefte“ (Vol. 104, Nr. 3, 2012)
[...] Ein Plus der Publikation ist [...] die dargebotene Materialfülle und Anschaulichkeit, in großem Umfang werden Zeitungsseiten, Handschriften und Zensurdokumente abgedruckt, die nicht nur illustrierenden Charakter haben, sondern die jeweilige Argumentation maßgeblich unterstützen. Außerdem liefert die Studie zweifelsohne eine Vielzahl neuer Perspektiven und es werden abseitige thematische Bereiche beleuchtet und dargestellt, dennoch würde man sich wünschen, dass das je Besondere oder Exemplarische im Zensurdiskurs, dass das Erkenntnisinteresse und die Konsequenzen für eine Neubewertung des Themas stärker pointiert werden. Der Zugriff auf die mittlerweile digital zugänglichen Archive und Dokumente könnte auch methodisch noch stärker variieren und in den kulturwissenschaftlichen Bereich hineingreifen.
Andreas Wicke in „Jahrbuch des Forum Vormärz Forschung 2012“
[...] The book aims not merely to present famous cases of censorship but rather to show the mechanisms of the apparatus as a whole, shedding light on the little-known fact that even after censorship was officially abolished, literature and press continued to be patronized by officials of the state. [...] [T]he volume presents the phenomenon of censorship in a broad range of contexts, revealing the pressure placed on literary production in the 19th c. and beyond.
Dagmar Paulus in „Year’s Work in Modern Language Studies“ (74/2014)
In der Vielfalt an Publikationen zur literarischen Zensur und ihrer Erforschung präsentiert sich dieser gut lesbare, teils im besten Sinne „erzählerische“ Sammelband als ein wesentlicher Beitrag zu den Praktiken und Mechanismen von Zensoren innerhalb eines ausgewiesenen Zeitfensters der jüngeren deutschen Geschichte. Die Auswertung archivarischer Quellen als für die Zensurthematik sinnvoller und erstrebenswerter Forschungsansatz vermag er in überzeugender Form vorzustellen, zu diskutieren und plausibel zu machen.
Gabriele Dreis in „Düsseldorfer Jahrbuch“ (2014)
[...] Den ersten wissenschaftlichen Gewinn bildet das ans Tageslicht beförderte reichhaltige heterogene Quellenmaterial, in dessen Horizont die einzelnen Forscher mit nahezu detektivischer Leidenschaft heikle Zensurfragen aufgespürt haben [...]. Zum Schluss sei kurz bilanziert: Die Autoren des vorliegenden Sammelbandes, der mit interessanten dokumentierenden Bildmaterialien ausgestattet ist, schaffen einen Mehrwert nicht nur für die heutige, sondern auch für die zukünftige Zensurgeschichtsschreibung. [...] Es bleibt zu hoffen, dass der produktive Impuls, der von diesem Tagungsband ausgeht, unter anderem in der Veranstaltung einer weiteren internationalen Tagung kulminiert, die das literarische Leben in Schlesien aus Sicht seiner Überwacher in den Blick nimmt.
Marek Halub in „Arbitrium“ (2015, 33/1)