Wir leben in der BRD in einer Gesellschaft mit hervorragenden Einrichtungen – Demokratie, soziale Markwirtschaft, soziales Netz, Bildungssystem, Gesundheitssystem –, einer Gesellschaft, die gleichwohl den Menschen kein Gefühl der Zufriedenheit vermittelt. Im Gegenteil sind alle Bürger im Stress und in einem Denken befangen, das ihnen auf allen Gebieten immer mehr Leistung abverlangt – und zwar nicht nur im Bereich der Arbeit, sondern auch in Konsum und Freizeit. Wir leben in der BRD in einer der reichsten Nationen der Welt, und niemand braucht sich ernsthaft zu sorgen, dass es ihm an den Mitteln zu überleben fehlen würde. Die sozialen Netze lassen selbst bei Arbeitslosigkeit und Armut den Einzelnen nicht aus der Gesellschaft fallen. Und doch leben fast alle Menschen im Gefühl der Knappheit, sehen sich in ihren Lebensmöglichkeiten, wie hoch auch immer ihr Lebensstandard sein mag, eingeschränkt. Für das einzelne Mitglied der Gesellschaft ist dieser Zustand zu bedauern, verglichen mit der Lage anderer Nationen und angesichts des herrschenden Elends in der Welt, ist er beschämend. Der Analyse dieser widersprüchlichen Situation war die Tagung, deren Referate hiermit vorgelegt werden, gewidmet.
Gernot Böhme (Hg.)
Kritik der Leistungsgesellschaft
2010
ISBN 978-3-89528-797-8
154 Seiten
kartoniert
Leseprobe: 9783895287978.pdf
Marcuse hat es beschrieben: warum mühen wir uns weiter ab, zu leisten, statt zu genießen? Warum jagen wir immer weiter, warum fehlt uns das Gen des Genießens? Er meint, es hat mit der Aufrechterhaltung von Herrschaft zu tun, nichts lieben wir mehr als das. Wir sind herrsch-süchtig und konsum-süchtig, das alte Sattfressen ist immer noch in unseren Genen. Und die Unterhaltungsindustrie lässt den Konsum grenzenlos überfließen, begrenzt nur durch unseren Tag und die Nacht. "Die ästethische Ökonomie erzeugt also auf der Konsumseite eine Eskalation des Verbrauchs. Von daher werden die Menschen im Gefühl der Knappheit gehalten, obwohl sie im Überfluss leben."
Und genau diese Konsumorientierung funktioniert ebenso im Arbeitsleben: die Ziele sind nur mit mehr und noch mehr Geld zu erreichen. Fleiß, Sparsamkeit, weltliche Askese sind heute nicht mehr gefragt. Auch staatliche Wirtschaftspolitik fördert grenzenloses Wachstum, ja nur mit dieser Größe sind weiterhin die Verheißungen des Sozialstaates möglich. Die Angst um den Arbeitsplatz führt zu Höchtleistungen. Am Ende steht ein Mensch, der sich selbst entfremdet, an den Leistungsgedanken gekettet scheint. Gernot Böhme beschreibt diesen Überang von Bedürfnissen zu Begierden treffend in dem ersten Beitrag: "Das Leistungsprinzip und das Reich der Freiheit."
Neben den Themen Leistungsdruck in der Schule, Audit Universität, Das Leben als To Do Liste, Leistung im Gesundheitssystem, Freizeit als Leistung, Hybris und Chemie wird der Bereich Körper-Sein als Leistung (Schönheit und Fitness) angesprochen. "Der Körper wird zu einem Schlachtfeld zwischen einem Körper den man hat, und einem, den man haben soll." formuliert Ute Gahlings. Wie wahr! Sie zeigt in ihrem Beitrag die eigenen Lebenslügen auf, aber eben auch diejenigen der Fitnessindustrie, deren Slogans wie "Zeig es Deinem Rücken" deutlich machen, wie geschädigt bzw. leistungsorientiert unser Verhältnis zum eigenen Körper ist.
Alles Arbeiten heute ist auf Leistung getrimmt, nicht mehr wahrgenommen werden jene Pausen bzw. die Muße, die uns erst wieder denken lässt. Gisela Dischner-Vogel bringt dies im Schlussbeitrag "Muße als Voraussetzung des Denkens" auf den Punkt. Wir alle denken heute nicht mehr, weil wir zu viel leisten müssen, im Hamsterrad der Anforderungen heiß gelaufen sind. "Durch die Fremdbestimmung einer möglichst schnell zu erreichenden Karriere ist, so meine These, die Existenz des Menschen - das, was ihn zum Menschen macht - infrage gestellt."
Wie junge Menschen heute die Muße erreichen, beschreibt Muriel Barbery in dem Roman Die Eleganz des Igels: Roman Ein zwölfjähriges, kluges, frühreifes Mädchen lässt sie sagen: "Um zum Beispiel einen tiefgründigen Gedanken aufzuschreiben, muss ich mich in eine ganz spezielle Schicht begeben, sonst kommen die Ideen und Wörter nicht. Ich muss mich vergessen, und gleichzeitig muss ich super konzentriert sein. Doch es ist keine Sache des Willens, es ist ein Mechanismus, den man betätigt oder nicht betätigt, wie um sich die Nase zu kratzen oder eine Rückwärtsrolle zu machen. Und um den Mechanismus zu betätigen, gibt es nichts Besseres als ein kleines Musikstück."
Sehr interessiert habe ich diese Feststellungen von Frau Dischner-Vogel gelesen und kann sie nur bestätigen: "Das Klima einer offenen Gesellschaft wird mit den Möglichkeiten einer Vernetzung im Internet durchaus gefördert... Es finden gleichsam Bildungsreisen statt, die ganz andere Erziehungsprozesse in Gang setzen als die vom Ökonomismus bestimmten Karriere-Trips."
Dieses lesenswerte Buch möchte uns befreien aus dem drohenen Erstickungstod einer höchsterregten Dauerkommunikationsgesellschaft, es möchte uns wieder durchatmen und nachdenken lassen.
Empfehlenswert!
Aus einer Kundenrezension bei amazon.de
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Edition Sirius