Der Titel ist vergriffen!
Seit der Antike wird über Unfälle geschrieben, doch der Unfall, den man heute kennt, ist eine Erfindung der Moderne. Recht, Versicherungswesen, Statistik, Medizin und Literatur – das sind die Bereiche, in denen der moderne Unfall Kontur gewinnt.
Das 20. Jahrhundert stellt das Jahrhundert des Automobilunfalls dar. Kraftfahrzeug und Massenmotorisierung prägen die Moderne, und so erlangt der Unfall weithin Prominenz. Als das große Ungewollte besetzt er die Stellen des Bruchs und der Krise, bis sich das Wissen vom Unfall neu ordnet. Um 1900 legt die szientifische Beschreibung den Unfall auf Begriffe der Kalkulation, der Prognostik, des Traumas fest, um die Unwägbarkeit des Ereignisses zu rationalisieren. Zur Risikominimierung entsteht ein komplexer Vor- und Nachsorgeapparat. Die literarische Beschreibung des Unfalls jedoch setzt gegen die Strategien der Regulation den regellosen Charakter des Ereignisses. Als Symbol des Umsturzes und des Einschnitts wird der Unfall zum Signum der experimentellen Literatursprache der Moderne. Er bildet den Anti-Tropus, der sich einer als rückständig verworfenen Literatur widersetzt. Von Marinetti über Kafka bis zu Musil, von Brecht zu Bernhard und Jelinek: Für die Literatur des 20. Jahrhunderts erhält der Unfall als Modell einer Poetik der Moderne Gewicht.
Claudia Lieb
Crash
Der Unfall der Moderne
Münstersche Arbeiten zur Internationalen Literatur Bd. 3
2009
ISBN 978-3-89528-705-3
344 Seiten
kartoniert
Claudia Lieb, Studium und Forschung in Münster und Berlin, Promotion 2006, ist Literaturwissenschaftlerin am Germanistischen Institut der Universität Münster.
Leseprobe: 9783895287053.pdf
[...] [Claudia Liebs] instruktive, materialreiche Studie zeigt, wie der Unfall zu einer thematischen wie poetologischen Leitfigur der Moderne avancierte. Während Rechtsprechung, Versicherungswesen, Statistik oder Medizin alles daransetzten, das neue Phänomen zu rationalisieren, war es gerade der gewaltsame Einbruch von Kontingenz, Kehrseite der vor Optimismus strotzenden Technisierung, der den Unfall für die moderne Literatur attraktiv und zu ihrer "emblematischen Figur" werden ließ. Wie literarisch anregend etwa Kafka Autounfälle fand, zeigt seine Automobilgeschichte im Pariser Reisetagebuch vom 11. September 1911. Ein arroganter Automobilist fährt darin das kleinere "Tricykle" eines Bäckergehilfen zu Schrott und zieht hinterher gestenreich die sich bildende Menge auf seine Seite. [...]
Oliver Pfohlmann in „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (12.11.2009)
[...] Dass Lieb mit der Situation um 1800 und mit der Großstadterfahrung der Weimarer Klassiker beginnt, ist ein angenehmer und heuristisch ertragreicher Zug: In den sich beschleunigenden Modernisierungsprozessen der Frühmoderne ist die Wahrnehmung von dichten sozialen Netzen und dynamischen Sozialfiguren extremer als etwa um 1900, auch wenn Urbanisierung, Industrialisierung und die Umstellung auf die Waren- und Geldwirtschaft erst um 1900 im Wesentlichen abgeschlossen waren. Dass Wahrnehmung jedoch von der Differenz zwischen Phänomen und Beobachter und nicht von der Essenz eines Phänomens bestimmt wird, ist freilich eine Binsenwahrheit, die einer weiteren Bestätigung kaum bedurft hätte. Der „Chok“ Walter Benjamins ist notwendig für den Weimarer Goethe noch viel stärker gewesen. Besonders erhellend ist, wie sich Lieb den Bewältigungsstrategien der Moderne um 1900 nähert, deren Hauptthema offensichtlich die Bewältigung dieses neuen Phänomens Unfall gilt, das als kontingentes Element beschrieben, verstanden, mit einem Begriff versehen, erfasst und planbar gemacht werden soll. An dessen Beginn steht naheliegend die Skandalisierung des Automobils, das weniger als Fortbewegungsapparat, denn als Unfallmaschine verstanden und in der Presse denunziert wird. [...] Lieb [hat] eine überaus intelligente und komplex argumentierende Studie versammelt [...], die zudem Material vorlegt, das in der Diskussion um die Funktion und Rolle der Technik in der Gegenwartskultur von großer Bedeutung ist. [...]
Walter Delabar in „literaturkritik.de“ (12/2009)
Die vollständige Rezension ist hier zu lesen: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=13771
[...] Ihre These ist so einfach wie gewagt: Autounfälle sind kein beliebiges Motiv der beschleunigten, mobilisierten Welt in der Literatur, sondern eine selbstreflexive Chiffre literarischer Texte, die darin ihren eigenen Status poetologisch fassen und erzählen. Lässt die Autorin die moderne Literatur vor die Wand fahren? Keineswegs. Obwohl der Anspruch des Titels gleich die gesamte Moderne verunfallen lässt, bietet das Buch akribische Einzelstudien zu oft überraschenden Zusammenhängen, die den modernen Unfallbegriff und den Automobilismus mit zentralen Texten der literarischen Moderne verbindet (u.a. Kafka, Döblin, Musil, Brecht). Dass die Arbeit dabei immer wieder den Unfall als virulente Zentralfigur sowohl für den Einzelfall wie für die Literatur der Moderne insgesamt betont, wirkt zuweilen etwas bemüht, doch wiegt die Autorin dies mit einer Vielzahl sehr differenzierter Lektüren der jeweiligen Kontexte und Figurationen auf. [...] "Ab 1900 dient der Unfall in literarischen Krisen als poetologisch wirksame Form, die Negativität mit einem radikalen Sinn verbindet." (S. 156) Dass dieser Sinnverlust eine selbstreflexive und kritische Funktion des Umsturzes von Begriffen und Erzählungen innerhalb der Literatur bedeutet, die der Geschichte der modernen Literatur eingeschrieben ist, macht Claudia Lieb deutlich. Ihre Arbeit sei daher gerade auch jenen literaturwissenschaftlich Interessierten empfohlen, die nicht an Autos interessiert sind.
Matthias Bickenbach in „IASLonline“ (Dezember 2009)
Hier die komplette Rezension: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3063
Der Titel der Arbeit [...] lässt eine etwas ausgefallene Motivstudie erwarten. Sie leistet jedoch weit mehr und entdeckt den Autounfall als eine thematische und poetologische Leitfigur der Moderne und ihrer literarischen Krisen. [...]
Paul Mog in „Germanistik“ (50/2009, Heft 1-2)
[...] While Lieb defines modern German-language literature as her primary focus, the carefully constructed historical-epistemological studies in part two present the crisis of the accident most clearly and cohesively. [...] „Crash“ offers a new understanding of the crisis of the accident across literary and non-literary fields [...]
Anita McChesney in „Modern Austrian Literature“ (2010)
[...] [Lieb] kann überzeugend zeigen, wie die moderne Literatur nach 1900 den Unfall ihrer eigenen Krisenhaftigkeit analog setzt und ihn zum „Paradefall einer Literatur“ werden lässt, die „selbst damit kokettiert, sinnlos, anormal und unverständlich zu sein“ (S. 14). Das flüssig geschriebene, durch umfangreiche Detailstudien beeindruckende Buch bereichert so nicht nur die Diskussionen zum Verhältnis von Technik, Kultur und Moderne um literaturtheoretische Aspekte, sondern stellt auch einen ernstzunehmenden Beitrag im Rahmen wissenspoetologischer Untersuchungen dar.
Dorit Müller in „www.musilgesellschaft.at“ (15. März 2010)
Die komplette Rezension: http://www.musilgesellschaft.at/texte/Rezensionen/Mueller.pdf
[...] die klugen und einlässlichen Analysen, die Claudia Lieb [Autoren von Otto Julius Bierbaum über Hermann Hesse bis Robert Musil] widmen wird, holt Erstaunliches aus den Texten heraus, zum Unfall wie zu den Texten [...] Ehe Claudia Lieb in die Region der Literatur und damit zur Ausargumentation ihrer These kommt, bedarf es allerdings noch einer langen Fahrt durch den Wald der anderen, gesellschaftlich zweifellos erwünschten Diskurse. Hier hat sie das Steuer fest in der Hand. [...] Ganz erstaunlich, was sich aus vermeintlich trockenen, juristischen, versicherungstechnischen, medizinischen etc. Texten machen lässt, wenn man einen geschärften Blick dafür hat! [...]
Erhart Schütz in „Monatshefte“ (No 2, 2011)
Münstersche Arbeiten zur Internationalen Literatur Bd. 3