Seit etwa einem Jahrzehnt gibt es eine geradezu drohende mediale Präsenz des Amok. Amok ist eine aktuelle Chiffre der Angst. Dem Leser, der auf dieses Buch und seinen Titel stößt, wird vielleicht für einen kurzen Augenblick der Schreck in die Glieder fahren, denn die bekannten und unbekannten Bilder und Geschichten vom Amok werden hier zunächst unter dem Begriff der Ausbreitung versammelt. Das trägt nicht gerade zur Beruhigung bei.
Andererseits wird sich auch Skepsis breitmachen. Wie kann die Geschichte einer Ausbreitung rekonstruiert werden, wenn kein eindeutiges medizinisches Problem vorliegt? Wie kann die Ausbreitung von etwas konturiert werden, das keine festen Konturen hat? Wie kann sich überhaupt ein so extremes und so voraussetzungsreiches Verhalten wie das Amoklaufen ausbreiten? Das vorliegende Buch versucht Antworten auf solche Fragen zu geben und gleichzeitig einzuführen in eine weit zurück reichende Dimension des Amok – seine Geschichte. Diese wird als Medien- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis in die unmittelbare Gegenwart rekonstruiert.
Heiko Christians
Amok
Geschichte einer Ausbreitung
2008
ISBN 978-3-89528-671-1
301 Seiten
Klappbroschur
Heiko Christians, Jg. 1963, ist seit 2008 Professor für Medienkulturgeschichte an der Universität Potsdam. Studium der Germanistik, Philosophie und Niederlandistik in Köln; weitere Buchveröffentlichungen: Über den Schmerz. Eine Untersuchung von Gemeinplätzen (Berlin 1999); Der Traum vom Epos. Romankritik und politische Poetik in Deutschland 1750 – 2000 (Freiburg i. Br. 2004).
[...] Das Phänomen ist schillernd, wie es der Potsdamer Professor für Medienkultur, Heiko Christians, in seiner belesenen „Geschichte einer Ausbreitung“ luzid schildert. Es sperrt sich letzter begrifflicher Durchdringung, was auch Christians' Buch [...] Reiz verleiht und es intellektueller Unterhaltung empfiehlt. [...]
Manfred Strecker in „Neue Westfälische“ (18.07.2008)
[...] Heiko Christians gelingt nicht nur eine faszinierende und hochgradig informative Studie über die Geschichte des Amoklaufs und der Vielzahl seiner Interpretationen. Zugleich zeigt seine Untersuchungen auf faszinierende Art und Weise das Potential einer Medienkulturwissenschaft auf.
Hervorzuheben ist dabei die methodische Beharrlichkeit, mit der jeder Bericht über das Phänomen Amok und jede Interpretation desselben auf medienbedingte, gattungsbedingte oder sonstige Limitationen und Vorbedingungen befragt wird. Christians’ Untersuchung des Amoks bildet damit eine Vielzahl von Perspektiven ab und entwirft geradezu en passant so etwas wie eine Fallgeschichte zu einer Medienkulturgeschichte des Kolonialismus.
Außerdem ist die jederzeit klare und verständliche Sprache zu loben, in der die ruhige und sachliche Argumentation vorgetragen wird. Der Autor verschont seine Leser mit jedweder Form von Jargon, und so ist seine Studie auch ohne intensive Kenntnisse der kulturwissenschaftlichen Theorieentwicklungen der letzten Jahrzehnte verständlich. Nicht wenige Abschnitte, insbesondere diejenigen, in denen eine spezifische malaiische Literatur und Kultur des Amoklaufs entdeckt wird, sind geradezu spannend zu lesen. Die große Lesbarkeit und Verständlichkeit des Buchs ist möglicherweise dem Umstand geschuldet, dass es sich erkennbar um die Ausarbeitung eines Vorlesungstextes handelt, was hier und da sogar noch an einzelnen Formulierungen sichtbar wird. [...]
Oliver Kohns in „IASLonline“ (15.12.2008)
Die ganze Rezension unter: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=2960
Eine fahrlässige Blindheit im Rationalisierungssystem konstatiert der Medienwissenschaftler Heiko Christians gleich zu Beginn seines fulminanten „Amok“-Buchs: Weil der Amokläufer ganz offensichtlich dem Inszenatorischen und Mimetischen zuneigt, wurde immer wieder einfache Nachahmung unterstellt. Das aber unterschlage den entscheidenden Unterschied zum Rollenrepertoire einer rituell kontrollierten Vormoderne: Heute haben wir es mit einander überlagernden Identifikationen auf Zeit zu tun, die „anonymen medialen Praktiken und Infrastrukturen stärker als dem freien Willen“ unterworfen sind. „Die Welten des Amoks und die Welten der Unterhaltung sind untrennbar verschränkt.“ Die Medien sind unschuldig am Amok, schuld aber an seiner Fehletikettierung als Epidemie. Wenn das Subjekt heute ein „pausenloser Schauspieler seiner selbst“ ist, dann gilt das eben auch für den Amokläufer und seine Mimesis zweiter Ordnung, erklärt aber nichts. Christians spürt dem Amok darauf als Motiv und Motivation in beiden Welten nach. Von den ersten Bezugnahmen auf das malaiische „amuk“ durch Südostasien-Reisende folgt er dem Diskurs durch die deutsche Literatur bis zur Poetologie, Ethnopsychiatrie, Filmgeschichte und Kulturwissenschaft. Bleibt zuletzt nur die Frage: Warum laufen Frauen nicht Amok? Gabriele Göttle hatte behauptet, weil sie daran die Überlegung hinderte, „wer das hinterher alles wieder wegmachen soll“. Christians glaubt dann aber doch eher: „Frauen partizipieren nicht primär an den Werten und Ritualen einer kriegerischen Ethik.“
oju in „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (18.02.2009)
[...] Das Buch ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie Kulturgeschichte in unserer Zeit medial erzeugter Unmittelbarkeit den Phänomenen eine Geschichte geben kann.
In „Dresdner Kulturmagazin“ (04/2009)
[Die Arbeit bietet] außerordentliche Fülle z.T. entlegenen Materials, Kenntnisreichtum und Lesbarkeit.
Christoph Deupmann in „Germanistik“ (50/2009, Heft 1-2)
Oliver Kohns hat aus aktuellem Anlass (Amoklauf von München am 22. Juli) seine 2008 erschienene Rezension des Buchs „Amok. Geschichte einer Ausbreitung“ von Heiko Christians komplett überarbeitet. Ausgehend von der der Annahme, dass der Amoklauf möglicherweise nicht in den Zuständigkeitsbereich der Psychiatrie, sondern in den einer Medienkulturwissenschaft fällt, empfiehlt er „noch einmal die vor ein paar Jahren erschienene Studie des Potsdamer Medienwissenschaftlers Heiko Christians über den Amoklauf zu lesen. Diese Studie nimmt die Beobachtung, dass der Amoklauf nicht nur ein beliebter Gegenstand massenmedialer Berichterstattung ist, sondern von dieser wesentlich konstruiert wird, zum Ausgangspunkt – und öffnet das Feld einer medienkulturgeschichtlichen Phänomenologie: »Sehr wohl aber müssen, die Genres der Amok-Überlieferung – also Meldung, Bericht, Tagebuch, Essay, Novelle, Briefroman, Blog oder Fachbuch – historisch verortet werden, sehr wohl müssen diese Formen nach Ausbreitungsgeschwindigkeit, Umfang, Ambition, Auflage oder Zugänglichkeit analysiert werden«.“
Oliver Kohns in „literaturkritik.de“ (August 2016)
Zum vollständigen Text: http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=22371
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