Das signifikante Merkmal des Gedichts ist nicht seine Erscheinung als Text, sondern der Gestus des dichterischen Sprechens. Dieser Gestus bezeichnet eine Abweichung von der alltäglichen Kommunikation und von normalsprachlichen Handlungen. In der Antike hat man die Dichter deshalb mit dem Wahnsinn in Verbindung gebracht, mit dem göttlichen Wahnsinn, aus dem, so hieß es, der Enthusiasmus der poetischen Rede entspringe.
Der Essay geht der Frage nach, was aus dieser Geste der Abweichung geworden ist und was sie bis heute für eine Rolle spielt, für die Dichter und Dichterinnen und für das Publikum. Welche Verkörperungen werden durch die Einnahme des dichterischen Gestus in Szene gesetzt? Was bedeutet es, sich dazu zu ermächtigen, den Enthusiasmus der poetischen Rede zu entfachen und andere damit zu konfrontieren? Und welche Rückschlüsse ergeben sich daraus für das Gedicht selbst, für seine Rezeption, seine Interpretation und seinen kulturellen Status?
Christian Schärf
Diebe des Feuers
Über den poetischen Wahnsinn
2023
ISBN 978-3-8498-1855-5
251 Seiten
E-Book (PDF-Datei), 2,8 MB
Christian Schärf, geb. 1960, lehrt Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft am Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität Hildesheim.
Arbeitsschwerpunkte: Mediengeschichte der Literatur, kulturwissenschaftliche Schreibforschung, Literarische Imagologie, Poetik. Freie Mitarbeit beim Südwestrundfunk (SWR2) und bei der F.A.Z.
Zahlreiche Buchveröffentlichung. Zuletzt ist erschienen: Die Idee des Romans (2021).
Bei Aisthesis sind erschienen Der Unberührbare. Gottfried Benn – Dichter im 20. Jahrhundert (2006), Der Wunsch zu schreiben (2014), Der Flug der Fledermaus. Essays zu einer allgemeinen Poetik (2015).
Leseprobe: lp-9783849818548.pdf
Die Beschäftigung mit einer „Kulturgeschichte ästhetischer Produktivität“, einem von Schärfs Forschungsschwerpunkten, der sich in Diebe des Feuers manifestiert, ist insofern gerade heute ein wichtiges Unterfangen, als sich hochinteressante Dispositivverschiebungen beobachten lassen. Schärfs Essay trägt dazu bei, indem er eine bestimmte Diskurslinie der Moderne, die des prometheischen Schöpfersubjekts, erhellend beschreibt. An seine Überlegungen zum genialen dichterischen Sprechen als „Heraustreten“ schließt Schärf seine Kritik am gegenwärtigen Literaturbetrieb an, die er zugespitzt formuliert immer wieder in seinen Text einstreut. Die Idee des „Außersichseins“ fehle grundsätzlich im heutigen Literaturbetrieb. Heute würde das Individuum zu sehr im Vordergrund stehen und mit dem Genialen identifiziert werden; die Idee der Beteiligung des „Anderen“ am dichterischen Vorgang spiele keine Rolle mehr.
Alena Heinritz in „Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft“ (2023)
Werbeflyer: 1854-schaerf-diebe-eflyer.pdf