Nach fast fünf Jahrzehnten liegt jetzt Heinrich Schirmbecks zweiter Roman »Der junge Leutnant Nikolai« in einer Neuausgabe vor. Die fesselnde Geschichte des jungen zaristischen Gardeoffiziers, der an den Vorbereitungen zum Dekabristen-Aufstand 1825 beteiligt ist, sich im letzten Augenblick von den Verschwörern löst, als Abtrünniger geschmäht wird und schließlich freiwillig in die sibirische Verbannung geht, steht in der Tradition des politisch-historischen Romans, der in der deutschen Literatur von Namen wie Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, aber auch Alfred und Robert Neumann gekennzeichnet ist. Zugleich ist sie, wie der Autor selbst in einer Nachbemerkung erklärt, ein »Ideendrama, in dem sich die Dialektik des abendländischen Freiheitsbegriffes auf der russischen Szene widerspiegelt«.
Nach dem mysteriösen Tod des Zaren Alexander I. wollen einige westlich gebildete Offiziere die Zeit des Interregnums zu einem Aufstand nutzen, um die Ideen der Französischen Revolution auch in Russland durchzusetzen. Sie scheitern damit, und die Rädelsführer werden gehenkt. Im Charakter und Denken der Hauptfigur, des blassen jungen Leutnants mit den rotgeränderten Augen und einer Vorliebe für nicht-euklidische Geometrie, reflektiert der Roman die Dialektik des westlichen Freiheitsbegriffs und stellt die Frage nach dem moralischen und intellektuellen Kompass unseres politischen Handelns. Die Widersprüche eines formalen Liberalismus werden hier in der geistigen Tragik einer prophetischen Hamlet-Figur gleichsam vorweggenommen, so dass Robert Jungk in einer Rezension der Erstausgabe schreiben konnte: »Was Pasternak in seinem ›Doktor Schiwago‹ nur angedeutet hat, spricht Schirmbeck aus. Das macht sein großartiges Buch oft erregender als den Weltbestseller, denn es weist in einer Welt der scheinbar unerschütterlichen (euklidischen) politischen Wirklichkeiten auf die möglichen anderen Welten hin, die vorerst nur geistig bestehen, aber einmal Realität werden könnten.«
Heinrich Schirmbeck
Der junge Leutnant Nikolai
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gerald Funk
Bücher der Nyland Stiftung, Köln
Nyland Literatur Bd. 13
2016
ISBN 978-3-8498-1175-4
319 Seiten
kartoniert
Heinrich Schirmbeck,1915 in Recklinghausen geboren, nach dem Abitur 1934 von den Nationalsozialisten zum Studium nicht zugelassen, war zuerst Buchhändler, ab 1939 Werbeleiter der »Frankfurter Zeitung«, bald darauf Mitarbeiter des Feuilletons, in dem seine ersten Erzählungen bis zum Verbot der Zeitung 1943 erschienen. Nach der Kriegsgefangenschaft arbeitete Schirmbeck als Redakteur und Mitarbeiter verschiedener Tageszeitungen und als wissenschaftlicher Rundfunkjournalist. Später lebte er bis zu seinem Tod 2005 als freier Schriftsteller in Darmstadt.
Schirmbeck war Mitglied des PEN, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Er veröffentlichte mehrere Erzählbände, die Romane »Ärgert dich dein rechtes Auge« (1957) und »Der junge Leutnant Nikolai« (1958, 1969), eine biologisch-philosophische Anthropologie sowie zahlreiche Essaybände und wissenschaftliche Abhandlungen. Er erhielt u. a. 1950 den »Großen Literaturpreis« der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz und 1995 die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt am Main.
Leseprobe: 9783849811754.pdf
Nyland Literatur Bd. 13