Start Gesamtverzeichnis Zur Literatur des 20./21. Jahrhunderts Hein, Claudia: Die Essbarkeit der Welt
Hein, Claudia: Die Essbarkeit der Welt
Artikel-Nr.: 978-3-8498-1121-1Einverleibung – ein körperliches Geschehen, das zum kulturellen Deutungsschema avanciert. In literarischen, philosophischen und kulturtheoretischen Texten tauchen immer wieder Figuren des wortwörtlichen In-den-Mund-Nehmens, des Kauens, Schmeckens und Verdauens auf. Einverleibung wird inszeniert als Drama der Körpervorgänge, das zugleich von Grenzziehung und Grenzüberschreitung erzählt, von den Grundlagen des Wissens, den Ursprüngen der Lust, aber vor allem von Praktiken der Aneignung und deren Subversion. Auf diese Weise verschränken sich in der Einverleibung Körper- und Zeichenprozesse – Mensch und Welt begegnen einander.
Claudia Hein
Die Essbarkeit der Welt
Einverleibung als Figur der Weltbegegnung bei Italo Calvino, Marianne Wiggins und Juan José Saer
2016
ISBN 978-3-8498-1121-1
379 Seiten
kartoniert
- I Einleitung
- Anfänge im Mund / Einverleibung als soma-semiotische Figur der Sinnstiftung / Zwischen mikroskopischer Textlektüre und theoretischer Perspektivierung / Aufbau
- II Einverleibung denken
- 1 Spekulatives: Hegel – Einverleiben und Verdauen als Modell des Denkens
- 2 Verschränktes: Feuerbach und der Metabolismus des Seins
- 3 Geschlossenes: Canettis Einverleibungsdenken und der Machtzugriff des Identischen
- 4 Geöffnetes: Bachtins groteske Verschlingungsexzesse
- 5 Ontogenetisches: Freuds ambivalentes orales Paradies
- 6 Anthropophagisches: Der Kannibale als Diskursfigur
- Anthropologie – Anthropophagie: »The Man-Eating Myth« / Kolonialismus – Kannibalismus: Der Kannibale als Projektionsfigur / Montaignes »Des Cannibales«
- III Italo Calvinos Sotto il sole giaguaro – Sinnliches Wissen des Mundes
- 1 Geschmackserkundungen
- 1.1 Vulgaritäten des Wissens
- 1.2 Erzählung einer sinnlich-kannibalischen Geschmacksreise
- 1.3 Paratexte und Rahmen
- 1.4 Zwei Titel
- 1.5 Polarisierte Aufnahme – Brüche oder Kontinuitäten?
- 1.6 Sinnlichkeit und Abstraktion
- 1.7 Doppelte Perspektive, doppeltes Wissen des Mundes
- 2 Das Wissen des Geschmacks
- 2.1 Sapore – sapere
- 2.2 I cinque sensi, Les cinq sens – Italo Calvinos und Michel Serres’ Annäherungen an die Sinne
- 2.3 Michel Serres’ wissende Münder
- 2.4 Mexiko schmecken
- »quarantadue varietà indigene di peperoncini«/ Die Schärfe des Wissens – Olivias geschmacksbezogene Kannibalismus-Theorie / Störmomente des Wissens
- 3 Liebeswissen
- 3.1 Die sakrale Kunst des Essens und der Liebe in ihrer ›keuschen Fleischlichkeit‹
- 3.2 Liebeskannibalismus
- Zähne, Lächeln, Sexualität und Einverleibung – mit Calvino und Canetti / Der Erzähler als Verschlungener / ›Lo sbranare‹: Erotisch-gewaltsames Verschlingen – Exkurs mit Calvino / Der (fade) Geschmack des Verzehrten / Wechselseitiges Verschlingen / Universaler (Liebes-)Kannibalismus, die Frage nach Opfer und Formlosigkeit – der Metabolismus der Welt
- 4 Der Geschmack der Wortkörper im Mund –Ausblick auf ein genießendes Wissen
- IV Marianne Wiggins’ John Dollar – Perspektiven der Zerstückelung
- 1 »On ›The Island of Our Outlawed Dreams‹«
- 1.1 Das Buch im Schatten der Satanic Verses
- 1.2 Die Literarizität einer Erzählung über koprophage Schulmädchen
- 1.3 Die Kannibalen im Geiste
- »Ithaka« / »L’Isola dei nostri sogni proscritti«
- 1.4 Dreifacher Einsatz: postkolonial, kulturanthropologisch, perspektivisch
- 2 Einverleibung als imperiale Bemächtigungsstrategie
- 2.1 Machtvolles Einverleiben
- 2.2 Diskursive Bemächtigung – Namen zerkauen
- 2.3 Charlottes hybride Einverleibungen
- 3 Verspeiste Väter und die Frage von Gesetz und Gemeinschaft – Freuds Überreste
- 3.1. Kannibalische Söhne – Freuds Totem und Tabu und der Ursprungsmythos vom kannibalischen Vatermord
- Die ›ungeheuerliche‹ Annahme / Theoretische Fiktionen / Am Anfang der Kultur war die Einverleibung
- 3.2 Koprophagische Töchter – Fragmente des Vaters und das Ende der Übertragbarkeit
- Kinder und Wilde / Exkremente essen und die Auflösung des Sinns – mit Abraham und Torok
- 4 Der Blick und die Einverleibung
- 4.1 Ein-Blicke
- »I’m a visual junkie« / Erblicktes / Zweifarbige Augen / ›Ikonophagie‹, die Obsession der Augen und des Mundes – mit Mattenklott / Blick und Zerstückelung – mit Lacan
- 4.2 Einverleibungsszenen als Blickszenen
- 4.2.1 Der Ausbruch der Gewalt und das erste tatenlose Blicken – Schildkrötenmassaker
- Exkurs: Schildkröten essen
- Darwins Schildkröten / Tennessee Williams’ »carnivorous birds« / Von Melvilles zwei Seiten bis hin zu Geertz
- 4.2.2 Der kannibalisch-phantasmatische Blick – Liebeskannibalismus
- 4.2.3 Den Kannibalen zusehen – Zweites tatenloses Blicken
- »the children downthere« / Freuds Unheimliches ›downthere‹ / Öffnungen verschließen – kannibalisches Begehren / Schreckensstarrer Blick und traumatische Wiederholung – Nollys kannibalische Wörtlichkeit
- 4.3 Der Blick durch das Fenster der Seele – Die Fragmente des Leonardo da Vinci
- ›kite‹ – Der Drachen am Himmel, der Milan im Mund / »showing how to mutilate and where to butcher« – Bilder vom Schlachten
- 5 Ästhetik der heterogenen Einverleibung – Oopi’s Treasures, Wiggins’s Treasures
- V Juan José Saers El entenado – Melancholische Urszene
- 1 entre dos mundos
- 1.1 Eindringen in die Welt der Colastiné
- ›En la zona‹ / In die Romanwelt – Wiederholungen eines kannibalischen Exzesses / ›nada‹ – Ebenen des Verlustes
- 1.2 El entenado – Der Raum der Melancholie, zwischen Zeiten und Welten
- 1.3 Zweifache Sinnsuche: Urszene und Melancholie
- 2 Urszenen – Historisch-kannibalische Sinnsuche
- 2.1 Freuds Urszene zwischen materieller und psychischer Realität
- 2.2 Kein historischer Roman?
- Sehnsüchte und der Geschmack des Fremden / Metahistoriographisches
- 2.3 Urszene der Maßlosigkeit – »sus fiestas desmedidas«
- Exzess des Dargestellten / Exzess der Darstellung / Kannibalismus als ›gesto vacío‹
- 3 Melancholie und Einverleibung
- 3.1 Die Grundlosigkeit des Leids und das Leid der Grundlosigkeit
- ›pena sin causa‹ – Das Leid des Erzählers / Die Grundlosigkeit des Leids – Psychoanalytisch gewendet
- 3.2 Bodenlosigkeiten – Das verschlingende Außen
- Grundlosigkeit als Bodenlosigkeit / Der sumpfig-verschlingende Grund des Bodenlosen / Melancholische Sümpfe / Sartres und Saers ›masses monstreuses et molles‹
- 4 Der Erzähler als def-ghi – Spiegel des Mundes
- VI Schlussbemerkung
- Dank
- Siglen
- Literaturverzeichnis
- Namensregister
Claudia Hein studierte Komparatistik, Italienische Philologie und Philosophie in München und Pisa und wurde an der Humboldt-Universität zu Berlin in Romanistik promoviert. Sie arbeitet als freie Lektorin und ist Redakteurin der Weimarer Beiträge.
Leseprobe: 9783849811211.pdf
D[er] sinnstiftenden Figur der Einverleibung geht Hein in ihrer umfangreichen Studie nach, wobei sie den Figurbegriff im Sinne Roland Barthes‘ nicht im rhetorischen, sondern im choreographischen Sinne verstanden wissen will. Dabei begreift sie die Figur als einen aus der Bewegung heraus erfassten Körper, der in einer bestimmten Gebärde stillgestellt werden muss, um sowohl die sprachlich-rhetorische als auch die körperlich-diskursive Dynamik zu verbinden. [...] Hein hat die [in Ihrem Buch verhandelten] Texte quasi auf den Seziertisch gelegt, dort in kleinste Bestandteile zerlegt und sie einer präzisen mikroskopischen Analyse unterzogen. Die Methode des close reading wird durch Hein jedoch immens erweitert, indem sie die Texte nicht nur in ihre jeweiligen Entstehungskontexte einbettet und Paratexte sichtbar macht, sondern ihnen umfassende theoretische Reflexionen zur Seite stellt. Vor allem mit letzteren will Hein einen gleitenden Übergang von Literatur- und Theorieanalyse schaffen, indem die theoretischen Texte ebenso wie die literarischen als Erzählungen gelesen werden können. Zwar besteht somit die Gefahr, durch die Fülle der Informationen und Querverweise als Leser überflutet zu werden, doch ein genaues und sehr konzentriertes Lesen zeigt, dass sich beide Ebenen, also die „Metaphorik der theoretischen Texte und die Wörtlichkeit der literarischen Texte“, kongenial vermischen und ergänzen. [...] Durch ihre vielschichtige Annäherung wird nicht nur die Anschlussfähigkeit an andere Disziplinen deutlich – Psychoanalyse, Kulturwissenschaft, Ethnologie, Philosophie, Literaturwissenschaft und postkoloniale Studien durchdringen einander –, sondern Hein leistet zudem einen wichtigen Beitrag, um die Figur der Einverleibung in einem größeren kulturhistorischen Kontext zu verorten.
Halin Hackert in „literaturkritik.de“ (03.09.2016]
Die ganze Rezension hier: http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=22428
„Die Essbarkeit der Welt“ [„The Edibility of the World”, my translation] is a wellresearched and stimulating book, which investigates the theme of incorporation as a metaphor for human exploration and knowledge of the world, both from a theoretical and a literary perspective. [...] In her investigation, the literary and the theoretical levels interrelate and merge smoothly. The result is a very articulated study, imbued with challenging interdisciplinary references and augmented by a rich bibliography and long commentary footnotes, which make it a book destined for an audience of connoisseurs. As suggested by the cover image, a work by Johann Zechmeister entitled Allesfresser („Omnivore”, my translation), Hein’s comparative research is large in scope, all-consuming in its argumentation, reveals something more about our human („omnivorous”) nature, and makes the reader’s mouth water, as it were, thinking about conducting similar research into further texts.
Maria Elisa Montironi in „Food & History“ (Volume 14 - nos 2-3 2016)