Der vorliegende Band bietet erstmals Wilhelm Speyers Texte für Hollywood, die er Anfang der 1940er Jahre im US-amerikanischen Exil verfasst hat. Es sind in ihren Sujets wie in ihrer Schreibart sehr unterschiedliche Geschichten: Die Spanne reicht vom Anti-Nazi-Thriller bis zum skurrilen Hörspiel über die Heilung von Augenkrankheiten, von Männlichkeitsattitüden bis zu den Konflikten zwischen Mutter und Tochter. Das Schicksal, dass sie nie verfilmt worden sind, teilen Speyers Arbeiten mit denen vieler anderer Exil-Autoren. Das sollte ihren Wert als originelles, manchmal amüsantes, manchmal spannendes und vielleicht auch bemerkenswertes Stück deutscher Exilliteratur nicht schmälern.
Wilhelm Speyer
Das faule Mädchen
Filmnovellen und weitere Texte aus dem amerikanischen Exil
Erstdrucke aus dem Nachlass
herausgegeben und mit einem Nachwort von Helga Karrenbrock und Walter Fähnders
AISTHESIS Archiv 19
2014
ISBN 978-3-8498-1048-1
197 Seiten
kartoniert
Wilhelm Speyer wurde am 21.2.1887 in Berlin als Sohn eines jüdischen Fabrikanten geboren. Er besuchte das Landerziehungsheim Haubinda, absolvierte ein ungeliebtes Jurastudium, nahm am Ersten Weltkrieg teil und widmete sich danach ganz der Literatur. Bekannt wurde er als Autor des Jugendbuches „Der Kampf der Tertia“ (1928, Rowohlt), überaus erfolgreich waren auch seine Ullstein-Romane, darunter „Charlott etwas verrückt“ (1927, Neuausgabe bei Aisthesis 2008), sowie seine Boulevardkomödien, die er z.T. gemeinsam mit Walter Benjamin verfasste. Von den Nazis auf den Index gesetzt, ging Speyer 1933 in die Emigration – zunächst nach Österreich, 1938 nach Frankreich und Anfang 1941 in die USA, wo er zeitweilig als Drehbuchautor für MGM arbeitete. 1947 erschien sein Exilroman „Das Glück der Andernachs“. 1949 kehrte er nach Europa zurück und lebte zuletzt in Oberbayern. Er starb am 1.12.1952 in Riehen bei Basel.
"Von dem Mädchen mit dem himmelblauen Kleid möchte ich eine Probeaufnahme." Die dunklen Herren beglückwünschten Lies mit maskenhaften Gesichtern. Die Probeaufnahme einer Komparsin, - das konnte die Karriere sein. Lies erhob sich mit schwerfälliger Anmut und folgte dem Adjutanten, einem Mann im Pullover, der ihr ein Zeichen gegeben hatte, ihn zu begleiten. So wurde denn also die Probeaufnahme gemacht. Das faule Mädchen sang mit einer trägen, dunkel-sinnlichen Stimme einen bekannten Hit Song, sprach gelassen und fast gelangweilt folgende Sätze, die er sich selber ausgedacht hatte: "Na, mein Kleiner, mit mir wirst da noch deine Erfahrungen machen. So geht man mit einem Mädchen wie MIR nich um. - Hüte dich vor Buckleys Fäusten."
Alfred Döblin, Jan Lustig, Walter Mehring, Alfred Polgar, Wilhelm Speyer: Von den fünf sogenannten 100-Dollar-Autoren, die 1941 in letzter Sekunde aus Europa heraus- und beim Hollywoodstudio MGM unterkamen, ist Speyer (1887–1952) wohl der am wenigsten bekannte. Für ein wöchentliches Salär von 100 Dollar fanden die Genannten pro forma Beschäftigung in der Filmmetropole. „Wir wurden gute Nachbarn in schlechten Zeiten“, erinnert sich Ludwig Marcuse des Kollegen im Exil. „Er war ein rarer Vogel im Gefilde der Literatur: unprätentiös, unvercliquet, keine Eitelkeit der kommunen Sorte, von nobler Zurückhaltung ... ein sehr charmanter Brummiger.“ Speyer, dessen Romane wie „Charlott etwas verrückt“ im Berlin der Weimarer Republik viel gelesen und auch verfilmt wurden, tat wirklich etwas für sein Geld. Davon zeugt der von Helga Karrenbrock und Walter Fähnders herausgegebene Band „Das faule Mädchen“, das zehn Filmnovellen aus dem Nachlass des Autors enthält. Gedacht waren diese Skizzen und Ideen als Rohstoff zur weiteren Verarbeitung; verfilmt wurde keine davon je. Dabei könnte man sich „Dr. Palland“, seinen Entwurf für einen Anti- Nazi-Film im besetzten Amsterdam, ebenso gut auf Leinwand vorstellen wie das kurze Treatment „Eine Nacht lang Hausbesitzer“, in dem Speyer das Genre des Roadmovies vorwegnimmt und sich als alerter Beobachter alltäglicher Situationen erweist: „Ein Ranger, ein Forstbeamter, hielt einmal in seinem feuerroten Wagen vor mir an. ,Besser, Sie liegen da nicht‘, rief er mir zu. ,Wegen der Schlangen …‘ Diese sehr amerikanische und häufig angewendete Redewendung: You better do – You better don’t, habe ich gern. Sie bedeutet: Ich wünsche mich nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten zu mischen, aber Sie tun gut daran, sich nicht gerade zwischen Klapperschlangen anzusiedeln.“ Sehr amüsant ist die Titelgeschichte vom „faulen Mädchen“, das aus purer Bequemlichkeit seinen Aufstieg zum Hollywoodstar verschläft und dennoch – am Ende wie zu Beginn – der Überzeugung ist: „Hui, hab ich ein schönes Leben.“
Michael Omasta in „Falter. Magazin für Wien“ (30/14, 22.7.14)
AISTHESIS Archiv 19