Band 1 der Kritischen Gesamtausgabe der Essays und Publizistik versammelt zum ersten Mal vollständig die frühen Arbeiten Heinrich Manns. Siebzehn davon sind schon damals nicht veröffentlicht worden. Kaum eine wurde nach dem ersten Erscheinen ein weiteres Mal publiziert. Der Autor selbst hat – im Gegensatz zum späteren Vorgehen – keine in eine Sammlung eigener Texte aufgenommen, und mehr als das: Mit 32 bekannte er dem Bruder Thomas, er habe sich am „Rande des Blödsinns“ bewegt, und von nun an suchte er die ästhetischen und politischen Positionen seiner frühen Essayistik und Publizistik zunehmend vergessen zu machen. So wurde – wenn auch auf eine recht gewaltsame Weise – die Bahn frei für den Auftritt des Dichters und politischen Intellektuellen Heinrich Mann, der (wie es 1910 dann hieß) seinen Weg „von der Behauptung des Individualismus zur Verehrung der Demokratie“ nahm. Lange nach seinem Tod hat zwar die Spezialforschung den Ästhetizismus des jungen Autors erörtert, und noch etwas später wurde sein Antisemitismus politisch kritisiert. Aber die Suche nach Antworten auf Rainer Maria Rilkes 1907 verwundert gestellte Frage: „Wann hat dieser große Künstler seine Lehrzeit gehabt?“ kann erst jetzt auf alles zurückgreifen, was Heinrich Mann zwischen 1889 und dem Sommer 1904 in der Presse des wilhelminischen Deutschlands zur Sprache zu bringen suchte.
In Reiseskizzen kommt es Heinrich Mann „auf die Stimmungen an, die aus Landschaften und Kunstwerken gezogen werden“ können. In Besprechungen neuer Stücke und Romane von Maurice Maeterlinck, Paul Bourget, Jules Amédée Barbey d'Aurevilly und zahlreichen weiteren Zeitgenossen wird deutlich, wie intensiv er die neueste Literatur verfolgt – in Deutschland, aber schon damals fast mehr noch in Frankreich –, wie genau er liest und wie er für das eigene Schreiben daraus zu gewinnen sucht. Ein Auftritt Isadora Duncans in München wird 1902 mit ebenso viel einfühlender Begeisterung beschrieben wie – noch nie gedruckt – eine fast gleichzeitige Aufführung des mit Frank Wedekind verbundenen Kabaretts Die Elf Scharfrichter, und der „große Moderne“ Heinrich Heine wird schon 1891 beobachtet, wie er sein Gedicht „Enfant perdu“ schreibt: „Das war es: begreifen, daß die Zeit niemals reif ist für die Zukunftsritter.“ Auch die modernen Naturwissenschaften beschäftigen ihn, und die psychophysiologischen Versuche, Genie und Wahnsinn der Künstler zu begreifen, finden ihn auf der Höhe.
Nachzulesen ist außerdem, dass Heinrich Mann schon seit Ende 1892 Artikel zur aktuellen Politik verfasst und wie er dann vor allem in der von ihm 1895/96 herausgegebenen Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert als Reaktionär agiert (zum Einstieg titelt er programmatisch: „Reaction!“). Über die 36 bereits bibliographisch verzeichneten Beiträge zu diesem Blatt hinaus konnten ihm weitere siebzehn zugeordnet werden (darunter z. B. eine ausführliche Besprechung von Theodor Herzls Buch Der Judenstaat), und in den Kommentaren wird zudem das Umfeld erstmals umfassend ausgeleuchtet, in dem diese Texte erscheinen. Der Antisemitismus zeigt sich dabei als Teil eines Kampfes um die Behauptung der politisch-kulturellen Identität des Deutschen und des Abendländischen – gegen das Judentum, aber auch gegen „Asien“ –, die schon damals angestrebte Verständigung mit Frankreich gewinnt ihr erstes Motiv aus diesem Ziel, und auch die erste Ausgabe der nachgelassenen Fragmente Nietzsches wird aus diesem Blickwinkel gelesen. Hinzu treten die Auffassung, dass kriegerische Gewalt zur Durchsetzung politisch-kultureller Ziele notwendig, legitim und mit positiven Folgen für den Stärkeren verbunden sei, und die Überzeugung, dass sich im Kampf ums Dasein menschliche Merkmale (Rassen) und Kulturen als Stärkere herausbilden, die das Recht haben, zum eigenen Schutz Schwächere als Minderwertige zu eliminieren – typische Gedanken des zeitgenössischen Konservatismus, die im 20. Jahrhundert tatsächlich (da stimmte der Titel der Zeitschrift) Wirklichkeit bilden sollten: mit zeitweise katastrophalen Folgen und noch immer virulent.
Aus Heinrich Manns Texten verschwindet dieses Denken im Sommer 1896. Als er sich mehr als sieben Jahre später wieder politisch äußert, ist der Bruch deutlich. Der Band enthält am Schluß die frühesten schriftlichen Zeugnisse, die dazu verfügbar sind: den bisher unveröffentlichten Entwurf einer Rezension zu den Erinnerungen des französischen Radikalliberalen Henri Rochefort und – als Anlage – die noch nicht vollständig bzw. überhaupt noch nicht bekannten Entwürfe zu zwei langen Briefen, in denen Heinrich Mann im Dezember 1903 und Januar 1904 auf die vernichtend gemeinte Kritik erwiderte, die der Bruder Thomas an seinem kurz zuvor erschienenen Roman Die Jagd nach Liebe geübt hatte. Aus dem ersten stammt das oben zitierte Wort vom „Blödsinn“, dem er mit Mühe entgangen sei. Am Schluss des zweiten heißt es: „Mit den – gebrochenen, verkümmerten – Instinkten des herrschsüchtigen Sinnlichen unter ein Volk verbannt, das alle Herrschaft demüthig einer Kaste abtritt; das geringe sinnliche Bedürfnisse hat und von dem der sinnliche Künstler nicht eine Steigerung ist (wie bei den Romanen), sondern unter denen er als Ausgestoßener herumlungert; ich empfinde das als widerwärtiges Geschick; ich fühle, daß alles Verrenkte, alles Peinigende in mir aus dieser Quelle kommt. [...] Ich leide fortwährend unter Dingen, die mich nichts angehn. Wenn ich eine Zeitung lese, muß ich mir immerfort ins Gedächtniß rufen, daß ich keine Beziehungen zu all den Ungeheuerlichkeiten habe, daß ich ein alleinstehender“ – mit diesem bezeichnenden Wort endet der nicht vollständig überlieferte Entwurf (die letzten Seiten des Notizbuches, in dem er sich findet, fehlen).
Der jetzt vorliegende Band läßt begreifen, welche Menge und welche Bewegung von Gedanken Heinrich Mann an diesen Punkt führten. Sein Konservatismus war einer der kulturellen Fülle. Auch später hat er, wie Volker Riedel in einer längeren Untersuchung gezeigt hat, die ebenfalls im Aisthesis Verlag erschienen ist, an wesentlichen Gedanken aus dieser Zeit festgehalten. Aber kurz darauf wurde er zum erbittert idealistischen Intellektuellen: er kritisierte von nun an radikal die ungeheuerlichen Dingen, die ihm begegneten. Dass und wie unmittelbare Volksherrschaft und Freiheit zu Leitbegriffen wurden und wie das Wissen um Literatur und Kultur darin wirkte, ist dem bereits erschienenen zweiten Band der Edition mit den Schriften vom Herbst 1904 bis zum Oktober 1918 zu entnehmen.
Heinrich Mann
Kritische Gesamtausgabe in zehn Bänden
Herausgegeben von Wolfgang Klein, Anne Flierl und Volker Riedel
Band 1: Mai 1889 – August 1904
Herausgegeben von Peter Stein
unter Mitarbeit von Manfred Hahn und Anne Flierl
2013
ISBN 978-3-89528-935-4
912 Seiten
Leinen
Leseprobe: 9783895289354.pdf
[...] Die kommentierte Gesamtausgabe der Essays und Publizistik Heinrich Manns im Aisthesis Verlag ist insgesamt ein intellektuell wichtiges und höchst beachtenswertes Unternehmen [...] [A]uch der nun erschienene Band [enthält] zahlreiche seit dem Erstdruck nie wieder ans Licht der Öffentlichkeit gekommene Texte. Dazu kommen knapp zwanzig bisher überhaupt noch nie edierte Handschriften aus dem Heinrich-Mann-Archiv. Alle Texte sind exzellent präpariert und vorzüglich kommentiert; man erfährt alles, was man braucht, kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig. [...]
Hermann Kurzke in „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (03.01.2014)
[...] Dass die frühe Publizistik Heinrich Manns nun erstmals sichtbar wird, akribisch wiedergegeben, fantastisch kommentiert, mit reichem Material und vorzüglichen Anmerkungen im Anhang, bedarf keiner Rechtfertigung, sagt Peter Stein. Natürlich nicht. Jetzt erst, da die große, wunderbare Edition der Essayistik und Publizistik die allerersten Schritte des angehenden Literaten dokumentiert, lässt sich der lange, widersprüchliche Weg, den Heinrich Mann zurückgelegt hat, wirklich ermessen. Und das Erstaunliche ist ja, wie rasch und radikal er sich von den politischen Positionen der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts entfernte, wie er dann mit sich selber ins Gericht ging und alles, bis auf eine einzige Ausnahme tatsächlich alles, was bis dahin entstanden war, rigoros verwarf. [...]
Klaus Bellin in „Neues Deutschland“ (24.02.2014)
[...] Dieser Band präsentiert und erschließt das essayistisch-publizistische Fru¨hwerk Heinrich Manns hervorragend, in jeder Hinsicht dem Editionstyp kritische Studienausgabe vollauf gerecht werdend. Und er besitzt einen besonderen dokumentarischen Wert, indem er den nach wie vor wohl am wenigsten wahrgenommenen und aufgearbeiteten Teil von Heinrich Manns Gesamtwerk auf gesicherter Textgrundlage zugänglich macht. [...]
Wolfgang Albrecht in „IfB“ (Informationsmittel für Bibliotheken 22/2014)
Die vollständige Rezension: http://ifb.bsz-bw.de/bsz380378353rez-1.pdf?id=6422
[...] Dass die Editoren der Essays Heinrich Manns (zu denen hier noch Wolfgang Klein zu zählen ist) wohl die besten Kenner seines Werks sind, haben sie in den vergangenen Jahren immer wieder bewiesen. Kenntnis, editorische Kompetenz und Umsicht bei der Bewertung des Materials, das sie vorzulegen haben, zeichnet sie aus, umso mehr in diesem Fall, in dem es um jene Texte Heinrich Manns geht, von denen er sich nachhaltig losgesagt hatte. [...] In der Tat scheint es ein weiter Weg vom völkischen Redakteur Heinrich Mann zum Repräsentanten der Volksfront im französischen Exil in den 1930er-Jahren und zum umworbenen Parteigänger der Russischen Revolution, die für ihn zur konsequenten Fortführung der Französischen Revolution geworden war. [...] Heinrich Mann war zu diesem Zeitpunkt [lange vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus] bereits zur anderen Seite gewechselt, auf die Seite des „anderen Deutschland“, das eben seine positiven Traditionen in den Vordergrund stellte, die der Aufklärung, die der Weltoffenheit und die der Toleranz. Es gilt also Saulus zu besichtigen, um Paulus verstehen zu können. Und wir bevorzugen, denke ich, Paulus allemal.
Walter Delabar in „literaturkritik.de“ (Juli 2014)
Zur vollständigen Rezension: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=19485
Mit dem ersten Band der Kritischen Gesamtausgabe (HMEP) wird die auf neun Bände angelegte Edition der »Essays und Publizistik« (1889–1950) fortgesetzt. Zuvor sind die Bände 2 (1904–18), 5 (1930–33) und 6 (1933–35) erschienen; 2015 wird die Ausgabe mit dem dritten Band (1918–25) in zwei Teilbänden publiziert. An dieser Stelle (vgl. JbKG 14/2012) ist die außerordentliche editorische Leistung der Herausgeber bereits nachdrücklich gewürdigt, sind die Gründlichkeit der textkritischen und sachlich-inhaltlichen Kommentierungen sowie die Zuverlässigkeit der Übersichten und Register anerkannt worden. Die nunmehr vorliegende Veröffentlichung zeigt das gleiche hohe Niveau [...]. Damit liegt erstmals ein vollständiger Überblick über das Frühwerk des Dichters vor. [...] [Die] umfassenden Kommentare [der Herausgeber-Gruppe] zu sämtlichen essayistischen und publizistischen Arbeiten erschließen auf rund 370 Seiten die biographischen, historischsoziopolitischen und die literarischen Kontexte in bewundernswerter Sorgfalt, Ausführlichkeit, Vielfalt und Tiefe. Die Präsentation der Texte und ihre Erläuterungen belegen wiederum, wie kenntnisreich, akribisch und anspruchsvoll die Herausgeber-Gruppe arbeitet. [...] Der in diesem ersten Band der HMEP-Ausgabe erfasste Zeitraum dokumentiert die Jahre vor dem Ruhm – vor dem »Auftritt des Dichters und politischen Intellektuellen « – mit Beiträgen, die heute im strengen Sinn des Wortes zu provozieren vermögen. Sie sind überwiegend konventionell, folgen zumeist dem »Zeitgeist« bis in antisemitische, alldeutsche, völkische und rassistische Verstiegenheiten. Sie verteidigen die Adelsgesellschaft und Positionen der Kirchen, die monarchische Staatsform, den Nationalismus und die Zensur sowie die traditionelle Form der Ehe und die Rolle der Frau. Heinrich Mann verspottet die Frauenbewegung, wendet sich gegen die Ausprägungen einer »falschen Humanität«, attackiert liberale, sozialdemokratische und sozialistische Gedanken und wiederholt entsprechende Forderungen nach Reformen in Staat und Gesellschaft. Dem später auf diese Publizistik zurückblickenden Dichter waren seine damaligen Darlegungen und Urteile so peinlich, dass er begleitende Zeugnisse vernichtete. Umso beeindruckender sind die nunmehr gelungene Rekonstruktion der literaturhistorischen Realitäten und die Aufdeckung der Beziehungen zwischen Werk und Biographie. Der Band zählt allein schon aus diesem Grund zu den wichtigsten Bänden der HMEP-Ausgabe.
Bernd Sösemann in „Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte“ (2015)