Wer je eine Lesung Ernst Jandls miterlebt hat, wird die besondere Art und Weise nicht vergessen, in der er Stimme und Artikulationsorgane, bisweilen den ganzen Körper einsetzte, um seine Texte zum Tönen zu bringen. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, daß es sich – im Unterschied zu allen Thomas-Mann-Portraits etwa – bei diesen Bildern um solche handelt, die den Dichter bei der Arbeit am Sprachmaterial zeigen. Der Autor inszeniert nicht sich selbst, sondern seine Texte, er interpretiert sie, verleiht dem Geschriebenen oder bereits Gedruckten ein akustisches Profil, er lädt das Material mit Gefühl auf und läßt – in unverwechselbarer Weise – dessen lautliche und rhythmische Eigenschaften bewußt werden.
Die hier wiedergegebenen Arbeiten des Fotografen Harry Ertl lassen erkennen, daß Fotografie sich nicht im rein technischen Vorgang bloßen ‚Abbildens‘ erschöpft, sondern durchaus über ein eigenes Register künstlerischen Gestaltens verfügt. Ertl läßt sich auf die technische Apparatur ein, er weiß ihre Möglichkeiten auszuschöpfen und an ihre Grenzen zu gehen. Auf diese Weise transformiert er Licht-Bilder in Kunst.
Jandls Lesungen stellen ein eminent wichtiges Element seines literarischen Gesamtwerks dar; nicht zufällig rührt seine öffentliche Bekanntheit von der Schallplatte Laut und Luise her, und glücklicherweise gibt es eine große Menge publizierter Tondokumente. Die visuelle Seite Jandlschen Lesens, die nuancenreiche Mimik und Gestik des Vortragskünstlers Jandl auf hohem künstlerischen Niveau fixiert zu haben, ist das Verdienst des Fotografen Harry Ertl.
Angelika Kaufmann (Hg.)
Jandl lesend
Lesungsfotos von Harry Ertl aus den Jahren 1978 bis 1996
2005
135 Seiten
kartoniert
ISBN 3-89528-348-7
Zu beobachten wars auf dem „Bielefelder Colloquium Neue Poesie“ oft: Ernst Jandl arbeitete poetisch am Laut, nicht nur mit den Sprechwerkzeugen, sondern mit mimischer Emphase unter Einsatz des ganzen Körpers. Der mit dem österreichischen Dichter (1925-2000) befreundete Zahnarzt und Fotograf Harry Ertl hat viele der Lesungen Jandls von 1978 bis 1996 dokumentiert. Schwarzweiß sind die Bilder, in ihrer Auflösung grobkörnig, weil der Fotograf aus Diskretion aufs Blitzlicht verzichtete. Ertl nahm Jandls Lesungen manchmal in schneller Folge auf, sodass man manches Kapitel in dem gerade herausgekommenen Fotoband „Jandl lesend“ wie ein Daumenkino ablaufen lassen kann. Und da lebt er wieder auf, Jandl, Laut um Laut modellierend.
Manfred Strecker in der „Neuen Westfälischen“ (7.4.2005)
[...] unscheinbar und genau protokollieren sie [die Fotos] mit, wählen eine gleichsam beliebige Serie aus der unendlichen Vielzahl der Momente aus und bilden Ketten an Erinnerungsbildern, die auf indirekte Weise mit den Ernst Jandls, zum Bespiel auch mit Serien wie „übung mit buben“, 1957, korrespondieren. [...] [die letzte] Serie endet mit einem Bild, das besser nicht hätte gewählt werden können: Es zeigt Ernst Jandl in der [...] üblichen Art. Die Uhr sitzt allerdings wieder auf seinem Handgelenk. Als wäre er wieder in die Zeit zurückgekommen. Sein Blick geht nach schräg oben. Hinter ihm lacht ein junger Mann, dem die Lesung offensichtlich recht gut gefallen hat.
Michael Hammerschmid in „wespennest“ (März 2006)