Max Frischs Bilderverbot, mittlerweile zum integralen Bestandteil des Bilds geworden, das man sich seinerseits von ihm macht und das es nunmehr zu differenzieren gilt, wird hier auf den Autor zurückbezogen. Zu diesem Zweck werden die beiden Texte, die am nachhaltigsten zu seinem Bild beigetragen haben, einer kritischen Relektüre unterzogen. Das am meisten aufgeführte Drama und der am häufigsten gelesene Roman werden mit der Deutung konfrontiert, die Frisch dem zweiten Gebot gegeben hat. Machen nicht auch diese Texte sich und ihren Rezipienten Bilder? Bilder vom Eigenen wie vom Anderen? Bilder von der Schweiz und ›dem‹ Schweizer? Bilder von ›dem‹ Amerikaner oder vom häßlichen Deutschen? Wird dadurch die in Andorra so prominent angeprangerte Funktion des Sündenbocks verschleppt? Von Interesse sind die so befragten Konstruktionen von Identität und Alterität auch in Hinblick auf die hierbei wichtige Rolle von Krankheit, Sterben und Tod, an einer mentalitätsgeschichtlichen Kippstelle, die mitten in Frischs Lebenszeit fiel: dem Übergang von den alten Infektionsängsten zur modernen Krebsangst.
Yahya Elsaghe
Max Frisch und das zweite Gebot
Relektüren von Andorra und Homo faber
Figurationen des Anderen 3
2014
ISBN 978-3-89528-929-3
420 Seiten
Klappbroschur
Yahya Elsaghe, Ordinarius für Neuere deutsche Literatur an der Universität Bern; Studium der klassischen und deutschen Philologie in Zürich, München, Freiburg i. Br.; verschiedene Forschungs- und Lehrtätigkeiten an UC Berkeley, University of Queensland, FU Berlin, zuletzt SNF-Förderprofessur an der Universität Zürich. Aufsätze zur deutschen Literatur von Christian Reuter bis W. G. Sebald. Bücher über Goethe, Hölderlin und Thomas Mann, zuletzt: Krankheit und Matriarchat. Thomas Manns Betrogene im Kontext.
Leseprobe: 9783895289293.pdf
Wenn die Schweiz einen Nationalschriftsteller hat, dann ist es Max Frisch. Seine Kanonisierung und Einverleibung durch die offizielle Schweiz ist insofern eine Ironie der Geschichte, als sich Frisch je länger, je mehr zum Kritiker seines Landes entwickelt hatte, wie Yahya Elsaghe in seiner aufschlussreichen Studie zeigt. […] In „Max Frisch und das zweite Gebot“ unterzieht Elsaghe Frischs populärste und am stärksten kanonisierte Werke, „Andorra“ und „Homo faber“, einer kritischen Relektüre. […] Am „ziemlich epigonalen Text“ [Andorra][…] sei in der Rezeption vorwiegend die antisemitismuskritische Botschaft wahrgenommen worden. Doch das im Drama gezeichnete Bild des Anderen („des“ Juden) sei durchaus problematisch. […] [Auch] „Homo faber“ sei ein „erstaunlich eigenwilliger Text“, schreibt Elsaghe. [D]ie Frisch-Lektüre scheint gerade angesichts ihrer dunkleren Stellen lohnend.
läu in „NZZ“ (28.10.2014)
Dass der frühe Frisch eher rechtskonservativ einzuordnen war, wusste man, [...], dass aber nun mit den Ansätzen postkolonialer Studien sozusagen schweres Geschütz aufgefahren wird, [...], führt im ersten Moment zumindest zu einer automatischen Abwehrreaktion. Aber wenn dann die ausführlichen Belege geliefert werden, schwindet mehr und mehr die Skepsis. Elsaghe hat mit seiner material- und argumentationsreichen Studie eine neue, ideologiekritische notwendige Sicht auf das Werk möglich gemacht. Und diese Sicht überzeugt. [...] Elsaghes Buch [...] hat der Frisch-Forschung einen neuen Ansatz geschaffen. Seine Erkenntnisse sind schwerwiegend und müssten nun am Gesamtwerk auf die Probe gestellt werden. Er hat Frisch dabei keineswegs „abgewickelt“, sondern zu weiterer Auseinandersetzung eingeladen, die am Ende zu einer Positionsbestimmung seines Werks in der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts führen wird. Als Ikone der engagierten deutschsprachigen Literatur wird er dann allerdings nicht mehr gelten können. Das Buch [...] besticht auch durch seine Sprache und den bei aller methodischen Klarheit unkonventionellen Zugriff auf den Gegenstand.
Michael Dallapiazza in „Comparatio“ (Band 8; Heft 2; 2016)
Figurationen des Anderen 3