Das 19. Jahrhundert gilt immer noch als Säkulum der Nationenbildung. Die vorliegende diskurshistorische Studie erklärt nun das Jahrhundert der Nationen als eine Geschichte der Europa-Inszenierungen. Sie weist nach, dass sich die Vorstellungen der Nation erst aus dem Europa-Diskurs heraus entwickelt haben, und stellt die lebendigen Debatten vor, in denen Europa von den Zeitgenossen als politische Idee, als interkultureller Erfahrungsraum, als prospektives sozio-kulturelles Modell und als kulturelle Praxis wahrgenommen wird. Der Verfasser hat ein umfangreiches Korpus an überwiegend deutschsprachigen, politischen, historiographischen, publizistischen, juristischen, theologischen und vor allem belletristischen Texten recherchiert. Anhand dieser Schriften wird rekonstruiert, wie sich infolge der revolutionären Umbrüche und politischen Krisen seit dem Sturz Napoleons das Bewusstsein einer europäischen Identität zunächst ausbreitet, aufgrund von politischen, kulturellen, technischen und geschichtsphilosophischen Entwicklungen wandelt und mit der Reichsgründung schließlich marginalisiert wird.
Insbesondere die Literaten entwickeln eine bis heute gebräuchliche Europa-Rhetorik. Bekannte Autoren wie Heine, Laube, Rückert, Schlegel oder Fürst Pückler-Muskau, aber auch Modeliteraten wie Zschokke, Willkomm oder Storch sowie vergessene Autoren wie Adolph von Schaden haben ihre Vorstellungen vom Kontinent in Geschichten inszeniert: Sie reichen von den Vereinigten Staaten von Europa bis hin zum europäischen Einheitsstaat, von einer offenen, kosmopolitischen Gesellschaftsordnung bis hin zum Wunsch nach einer uneinnehmbaren europäischen Festung, von den europaskeptischen Geschichtspessimisten bis hin zu den messianischen Sehnsüchten nach einer Kolonialmacht.
Claude D. Conter
Jenseits der Nation – das vergessene Europa des 19. Jahrhunderts
Die Geschichte der Inszenierungen und Visionen Europas in Literatur, Geschichte und Politik
2004 [als Print-Ausgabe: 2004: ISBN 978-3-89528-428-1]
ISBN 978-3-8498-1617-9
780 Seiten
zahlreiche Abbildungen
E-Book (PDF-Datei), 6,1 MB
Claude D. Conter, geb. 1974, arbeitet seit 1998 als Lehrbeauftragter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Diverse Veröffentlichungen zum Verhältnis von Literatur und Politik, Literatur und Medien, Drama und Theater und zur Gegenwartsliteratur. Die vorliegende Arbeit wurde im Oktober 2003 mit dem Promotionspreis der Otto-Friedrich-Universität Bamberg ausgezeichnet.
Leseprobe: lp-9783895284281.pdf
Für die Europadiskurse der ersten Hälfte des deutschen 19. Jahrhunderts stellt diese Arbeit nun zunächst einmal ein Referenzwerk dar.
Wolfgang Schmale in „H-Soz-u-Kult“, 30.04.2004
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-074
[...] im Verlauf der Untersuchung, die eine Vielzahl bislang unbekannter und verstreuter Quellen [...] souverän [...] auswertet, [wird] deutlich, daß die ‚Inszenierung‘ Europa sich der politisch offenen, oft als Krise registrierten Situation nach Napoleons Entmachtung verdankt [...]. Eine Monographie, die auf eindrucksvolle Weise konzeptionelle Reflexion mit Materialerschließung und textnaher Analyse verbindet.
Rainer Kolk in „Germanistik“ (2004/Heft 3/4)
[...] das wissenschaftliche Ziel an sich – die Rückwirkung des Europagedankens auf die Belletristik und auf die graphische Massenkunst des frühen 19. Jahrhunderts – hat die Studie überzeugend erreicht, und selbst wenn man glaubt, mit vielen Aspekten der europabezogenen literarischen Produktion des fraglichen Zeitraums vertraut zu sein, erfährt man viel Neues [...]. [...] eine Studie, die viele neue Facetten des Europadenkens im frühen 19. Jahrhundert erschließt und somit im weiteren Sinn der Grundlagenliteratur zugerechnet werden kann.
Heinz Duchhardt in „Historische Zeitschrift“ (Band 279, 2004)
[...] die Herauslösung divergierender Argumentationslinien der Revolutionsliteratur trägt zu einem differenzierten Verständnis des Diskurses über Europa in der Literatur bei. Conter kann darstellen, warum und wie in Folge der 1848er Revolution der National- den Europadiskurs überdeckt und einen Paradigmawechsel im deutschen Bewusstsein europäischer Identität einläutet. [...] Conter ist es gelungen, Brüche im ‚Programm Europa‘ der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sichtbar zu machen und ein von der Literaturgeschichtsschreibung weitgehend verdrängtes Archiv (Foucault) wieder zugänglich zu machen.
Christoph Schmitt-Maaß in „literaturkritik.de“ (Mai 2005)
[...] Was die Lektüre dieses Werkes zu einem erfreulichen Erlebnis macht, liegt u.a. an der gründlichen Erforschung der Thematik, die in vier internationalen Tagungen vorbereitet worden war (Bamberger „Eurovisionen“, 1995f.). Hinzu kommt die Eröffnung einer bisher vergessenen oder bewußt verdrängten Europa-Perspektive, die kritische Auseinandersetzung mit der Forschung und vor allem überraschende Entdeckungen an den herangezogenen Texten. [...] Zweifellos ist Conter ein Meisterwerk gelungen. [...]
Gerhart Hoffmeiser in „Monatshefte“ (No. 4, 2005)
[...] Die im vorliegenden Rahmen nicht im Einzelnen referierbaren Rekonstruktionen europäischer Argumentation und Projektion, die Claude C. Conter geleistet hat, sind höchst eindrucksvoll und verleihen dieser Erstlingsarbeit einen hohen Rang. [...] Wer sich mit dem europäischen und dem nationalen Denken des 19. Jahrhundert befaßt, wird künftig an dieser Studie nicht vorbeikommen. [...]
Wolfgang E. J. Weber in „Arbitrium“ (1/2005)
[...] eine[ ] überaus großartige[ ] Leistung, wo Massen von Materialien, oft aus heute wenig bekannten, aber damals relevanten Quellen übersichtlich und informativ organisiert sind. [...] eine[ ] reichhaltige[ ] Leistung, die zum außerordentlichen Grad die Dimension des Vor- und Nachmärzdiskurses erweitert hat und lange Zeit als Quelle zu weiteren Forschungen dienen wird.
Jeffrey L. Sammons in „IASLonline“ (25.08.2006)
Vollständig nachzulesen unter: www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Sammons3895284289_1740.html