Den Faust muss man lesen – und zwar langsam und sorgfältig. Im vorliegenden Aufsatzband wird zunächst die Einheit des Faust-Textes verständlich gemacht. Es ist zum einen die Tragödie des Wissens oder besser des Wissenwollens, also die Magistertragödie, die das Ganze zusammenhält. Zum anderen die Tragödie der Margarete - die in der Regel trivialisiert wird als die Geschichte eines jungen Mädchens, das verführt wird. Goethe stellt uns aber keineswegs ein naives Gretchen vor, sondern eine junge, lebenserfahrene Frau, die aufgrund ihrer hohen Teilnahme- und Hingabefähigkeit in ihrer tiefsten leiblich-seelischen Existenz zerrissen wird. Herzdissoziation nennt Böhme das.
In den nächsten Kapiteln wird exemplarisch gezeigt, wie durch close-reading einzelner Textpartien sich auch das Ganze dem Verständnis erschließt. Da ist zum einen die alte Frage, ob Faust eigentlich seine Wette mit Mephisto verloren oder gewonnen hat. Genauer analysiert wird hier die Szene mit Helena, in der Faust dem Verweilen im Augenblick am nächsten kommt. Zum anderen wird durch Analyse eines ganz bestimmten literarischen und kulturgeschichtlichen Topos, des Schemas der vier Elemente, gezeigt, wie der ganze Faust-Text durch die Tradition alchimistischen Denkens geprägt ist.
Schließlich wird der Faust von seinen geflügelten Worten her betrachtet. Das führt zu einem durchaus trivialisierenden Verständnis des Faust - trifft aber auch einen Grundzug: Tatsächlich hat Goethe, der sich ja nicht als Philosoph verstehen wollte, doch eine starke Neigung zur Weltweisheit. Man konnte ihn ohne weiteres in die Reihe der großen Moralisten, also die Reihe von Montaigne bis Nietzsche oder Adorno stellen.
Gernot Böhme
Faust lesen, Faust verstehen
Schriften der Darmstädter Goethe-Gesellschaft, Heft 4
2014
ISBN 978-3-8498-1070-2
ISSN 2191-4796
75 Seiten
kartoniert
Gernot Böhme, Prof. Dr., geb. 1937; Studium der Mathematik, Physik, Philosophie; Wiss. Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, Starnberg 1970-77, 1977-2002 Professor für Philosophie an der TU Darmstadt, 1997-2001 Sprecher des Graduiertenkollegs Technisierung und Gesellschaft. Seit 2005 Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie e.V., IPPh; http://www.ipph-darmstadt.de/, Vorsitzender der Darmstädter Goethegesellschaft. Zuletzt bei Aisthesis erschienen: Pflegenotstand: Der humane Rest
Leseprobe: 9783849810702.pdf
[...] this svelte volume offers fresh insights into „Faust“ for casual readers and scholars alike.
William Carter, Iowa State University, in „German Studies Review“ (Volume 40, Number 2, May 2017)
Schriften der Darmstädter Goethe-Gesellschaft, Heft 4
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