1971 gab Franz Mon im Luchterhand Verlag die Schallplatte PHONETISCHE POESIE heraus. Darauf waren Tonzeugnisse dokumentiert, die den Zeitraum von 1910, den Anfängen der technischen Tonaufzeichnung also, bis hin zur unmittelbaren damaligen Gegenwart umspannten. Räumlich erstreckte sich das Spektrum der Auswahl über den gesamten europäischen Raum. Konzeptionell repräsentierte die Sammlung die sechs Jahrzehnte zwischen dem russischen Futurismus und den Sprachexperimenten der 1960er Jahre.
Dieses wichtige Dokument akustisch-experimenteller Literatur – seinerzeit eine Pioniertat – wird hier neu herausgegeben und wieder verfügbar gemacht.
Es begann mit dem Protest gegen den Gebrauch einer Sprache, die Wörter nur noch als Verpackungen kannte. Velemir Chlebnikov, Protagonist der russischen Avantgarde 1913: »Wir haben aufgehört, auf Wortbau und Aussprache der Worte nach grammatischen Regeln zu schauen. Wir haben begonnen, in den Buchstaben Wegweiser für die Wörter zu sehen… Vokale verstehen wir als Zeit und Raum, Konsonanten als Farbe, Klang, Duft.«
Chlebnikov findet sein Material in Vogelstimmen und in Silben, die magisch das Wesen der Dinge zu beschwören unternehmen. Die Silbe bleibt Bauelement der ersten Generation von Lautgedichten, im »Großen Lalula« Morgensterns ebenso deutlich wie in Hugo Balls »Karawane«, die 1916 im Cabaret Voltaire ertönte. Erst Raoul Hausmann bringt mit eruptiver Spontaneität die artikulatorische Geste mit ins Spiel und schneidet damit eine Sprachschicht an, die unerschöpflich erscheint, weil sie auf kein konventionelles Zeichensystem bezogen ist. Hausmanns spontane Artikulationsbündel und Kurt Schwitters’ legendäre Ursonate wurden Vorbild und Anstoß vieler späterer Versuche, insbesondere der Lettristen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Paris die Lautdichtung neu zu begründen unternahmen. Die Erfindung der elektromagnetischen Aufzeichnung akustischen Materials ermöglichte die Speicherung auch solcher Sprachlaute, die sich bisher als zu differenziert der Notierung entzogen hatten. Das Tonband wurde jedoch sehr schnell vom bloßen Aufzeichner zum Medium sensibelsten Umgangs, genauester Beobachtung und freier Manipulation der Sprache. Erst mit seiner Hilfe konnten winzige Vibrationen erfaßt, Wörter in ihre lautlichen Spektren zerlegt, vielschichtige simultane Kompositionen entworfen werden, die schließlich auch die Großform des Hörspiels einbezogen. Die elektronische Bearbeitung begann die scheinbar stabile Grenze zwischen Sprache und Musik aufzulösen. Komponisten griffen zu sprachlichem Material, Autoren benutzten kompositorische Prinzipien der Musik.
Das Spektrum der Experimente dehnt sich seit 20 Jahren [Die Schallplatte erschien 1971 im Luchterhand Verlag] immer weiter aus. Auf dieser Platte können nur bestimmte Sektoren gezeigt werden. Außer acht gelassen wurden aus Raummangel sowohl Texte, die überwiegend semantisch orientiert sind, wie solche, in denen das Sprachmaterial völlig im elektronischen Arbeitsprozeß untergegangen ist. Bernard Heidsieck und Pierre Garnier seien als Vertreter der ersten, die Komponisten der schwedischen Gruppe Fylkingen als solche der zweiten Richtung wenigstens genannt.
Der Schwerpunkt der Entwicklung liegt seit der Initiative der Lettristen offensichtlich bei den französischen Autoren, während die deutschen sich zunächst auf graphische Verfahren des Textexperiments (»konkrete poesie«) konzentriert hatten.
Noch immer lassen sich im wesentlichen zwei Erkundungsrichtungen unterscheiden: diejenige, die sich jeweils an bestimmten Parametern der gesprochenen Sprache – Rhythmus, Semantik, Tonfarbe, Sprechgestik usw. – vorantastet und dabei magischen Singsang ebenso gebraucht wie das ironische Puzzlespiel mit in Silben (Wortstämmen) versteckten Bedeutungen (z.B. Cobbing, Jandl, De Vree), und andere, die sich entschlossen des technischen Mediums bedient und die Sprache auf ihre Mikrostrukturen zurück- und dabei über jede vertraute Fassung hinausführt (Chopin, Lora-Totino). Die Grenzerfahrungen, aus denen die sound poetry, die poésie sonore besteht, machen zugleich bewußt, an welcher Art Grenzen Sprache überhaupt verläuft: semantische, phonetische, akustische, rhythmische, rhetorische.
PHONETISCHE POESIE
herausgegeben von Franz Mon
AISTHESIS hörbuch 3
2011
ISBN 978-3-89528-840-1
CD
40:36 min.
Hörprobe: Kazimir Malevic: Lautgedicht, 0:25 min
Es war eine Pioniertat als Franz Mon 1971 im Luchterhand Verlag die Schallplatte „Phonetische Poesie“ herausgab. Eine Pioniertat, weil Mon auf dieser Platte akustisch experimentelle Literatur von ihren Anfängen im Jahr 1910 bis in die damalige Gegenwart zusammenfasste. Der Bogen spannt sich dabei quer durch Europa von den russischen Futuristen bis hin Ernst Jandl und den Sprachexperimenten der 1960er Jahre in Italien, Tschechien, Österreich, England, Belgien und Deutschland. Eine kleine Pioniertat ist es wohl auch zu nennen, dass der in Bielefeld beheimatete Aisthesis Verlag Mons Dokumenten-Sammlung nun wieder zugänglich gemacht hat – auf CD in seiner kleinen, aber feinen Hörbuch-Reihe. Dass ein Bielefelder Verlag dies tut, ist umso schöner, war diese Stadt doch 25 Jahre Tagungsort des Colloquiums Neue Poesie, dem unter anderen auch die konkreten Poeten Franz Mon, Ernst Jandl und Gerhard Rühm angehörten, die wiederum mit Beiträgen auf der CD vertreten sind. [...] Dass auch politisches Potential in dieser Lyrik steckt, zeigt Gerhard Rühm. In seiner „Zensurierten Rede“ von 1969 werden alle mehrsilbigen Wörter einer mitgeschnittenen Rede so ausgekernt, dass nur der erste und der letzte Laut stehen bleiben. Ein starker Höreindruck. Franz Mon nennt es eine „konkrete Demonstration von und gegen Zensur“. Die Wörter werden nicht länger als Verpackung geduldet – wie es schon 1910 die russischen Futuristen forderten. Wahrlich ein wichtiges Dokument – diese Platte von 1971.
Stefan Brams in „Neue Westfälische“ (6. Dezember 2011)
AISTHESIS hörbuch 3