Literarische Texte beziehen sich wechselseitig aufeinander. Wenn dem aber so ist, dann erweist es sich als wenig sinnvoll, sie streng am Faden der Chronologie aufzureihen oder nach Nationalliteraturen zu ordnen. In ihrer Gesamtheit gleicht die Literatur eher einer unermeßlich weiten Landschaft, in der der Leser, Bezüge herstellend, frei umherwandern kann. Also darf er auch eine Rundwanderung unternehmen, auf der zuletzt wieder jene Texte in den Blick gelangen, von denen sie ihren Ausgang nahm. Zentrale Themen und Motive menschlichen Daseins wie Liebe oder Sprache, Spiel oder Tod geben der in diesem Buch vorgestellten Wanderung durch die europäische Literatur die Richtung vor. Dabei reicht das Spektrum besichtigter Texte von Goethes Wahlverwandtschaften bis Imre Kertész' Roman eines Schicksallosen, von Ellas Canettis Die gerettete Zunge bis Dornröschen in der Fassung der Brüder Grimm, von Birgit Vanderbekes Alberta empfängt einen Liebhaber bis Grimmelshausens Siniplicius Simplicissimus, von Platons Phaidon bis zur Autobiographie von Rudolf Höß, dem Kommandanten von Auschwitz.
Oliver Sill
Der Kreis des Lesens
Eine Wanderung durch die europäische Moderne
(Neuauflage der Ausgabe von 2001)
2012
ISBN 978-3-89528-897-5
247 Seiten
kartoniert
Oliver Sill, geb. 1957, PD Dr. phil., studierte Germanistik, Geschichte und Erziehungswissenschaft in Münster. Promotion 1990 mit einer Arbeit über autobiographisches Erzählen im 20. Jahrhundert (Zerbrochene Spiegel. Berlin/New York: de Gruyter 1991). Seine Habilitationsschrift Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft erscheint 2001 im Westdeutschen Verlag.
Ein Gespenst geht um in den Literaturwissenschaften: die Intertextualität, oder, um mit dem ersten Satz aus O. Sills Essaysammlung zu antworten: »Literarische Texte beziehen sich aufeinander.« Daß es sich hierbei durchaus um mehr denn ein neues Paradigma, um mehr als eine vorübergehende Modeerscheinung der methodengebeutelten Philologien handeln kann, beweisen Sills kluge Beobachtungen zu Texten etwa von W. G. Sebald, B. Vanderbeke, H. Müller oder B. Kronauer, die der Leser Sill auf andere kanonische ebenso wie diskreditierte Texte (z. B. Höß' autobiographische Aufzeichnungen im Vergleich zu I. Kertesz' Roman eines Schicksallosen) zu beziehen weiß und – textnah ohne sich den jeweiligen Texten dabei bloß anzuverwandeln – miteinander ins Gespräch zu bringen versteht. Literatur – damit steht er in bester Tradition – ist ihm ein Spiel (vgl. 225), in dem bestenfalls die (soziale) Zeitordnung ihre Geltung und Gültigkeit einbüßt. Das Lesen, so Sill in seinem Nachwort, gleicht einer Wanderung, auf der man der »voranschreitenden Zeit für eine Weile« entkommen kann (vgl. 239), um schließlich auf neue Wahrnehmungsangebote (wie es bei S. J. Schmidt heißt) zu stoßen.
Werner Jung in 'Germanistik', H. 3/4, 2001