Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelte sich in der modernen Literatur eine neue Bewegung im jüdischen Denken. In Literatur und Theorie des Expressionismus und der Dada-Kunst, in der Neuen Sachlichkeit und im politischen Theater stand die ästhetische Interpretation des Judentums unter neuem Vorzeichen. Autoren wie Ernst Toller, Franz Werfel, Franz Kafka, Walter Mehring, Yvan Goll, Else Lasker-Schüler und Walter Benjamin nutzten die Instrumente der Avantgarde – die Technik des Fragments, den Diskurs der Ekstase, das Motiv der Verwandlung und die Effekte der Verfremdung – um eine neue Lesart der Quellen des Judentums anzubieten und eine kritische Perspektive auf die Struktur der Identität zu öffnen.
Die Studie des israelischen Germanisten Galili Shahar weist auch den Einfluß der Avantgarde auf die Schriften Gustav Landauers, Martin Bubers und Franz Rosenzweigs nach und erklärt ihren Anteil an der Gestaltung eines neuen theologischen Denkens. Mit diesem Buch gewinnt die Vorstellung vom deutsch-jüdischen Dialog eine zusätzliche Dimension, indem der Begriff des Dialogs mit einem neuen Blick auf Sprachfiguren, Performanz und Körperlichkeit re-definiert wird.
Galili Shahar
theatrum judaicum
Denkspiele im deutsch-jüdischen Diskurs der Moderne
2007
ISBN 978-3-89528-604-9
338 Seiten
kartoniert
Galili Shahar, Dr. phil., ist seit 2003 Dozent an der Abteilung für deutsche Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Zuvor war er an der Freien Universität Berlin tätig. Seine wissenschaftliche Arbeit widmet sich vor allem der Literatur und Philosophie der Aufklärung und einem vergleichenden Lesen der deutschen und der hebräischen Literatur nach 1945.
Wagners Stellung zum Judentum war kompliziert und zeitigte auch in der jüdischen Kultur faszinierende Folgen. Eine weitreichende Studie über ein außerordentlich reiches Gebiet vernetzt nun einige Thesen und Werke des Musikdramatikers am Rande mit den Theaterstücken, Erzählungen und Denkspielen jüdischer Dichter und Denker (u.a. mit Kafka, Martin Buber und Walter Benjamin), um Wagner erfolgreich in den deutsch-jüdischen Dialog zu platzieren, der mit einem polemischen Schlagwort nicht erfasst werden kann. Dass nicht wenige Juden Richard Wagner und seine Musik schätzen, ist bekannt. Dass aber problematische Positionen Wagners von jüdischen Künstlern aufgegriffen und positiv verwandelt wurden (in Franz Rosenzweigs „Theater der Erlösung“ wurde der wandernde Jude zum Typus des modernen Künstlers), machte aus jenen „Denkspielen“ fruchtbare Kontakte.
Frank Piontek in „Parsifal. Festspiel Nachrichten“ (Bayreuth, August 2007)
[…] To conclude, Shahar’s book is sure to have a wide readership by virtue of its deft maneuverings among literary and aesthetic modernism, German-Jewish studies, theater studies, and even interdisciplinary studies of the body and corporeality. It represents one of the best books in German-Jewish cultural studies and truly opens the field in a productive direction by shedding new light on the German-Jewish project of modernity.
Todd Samuel Presner in „Monatshefte“ (2/2008)
[…] Galili Shahars Studie ist in sieben Kapitel gegliedert, die ein dichtes Gesamtbild der komplexen Identitätsangebote in den deutsch-jüdischen dramaturgischen, literarischen und philosophischen Diskursen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bieten. Den Dreh- und Angelpunkt der Überlegungen bildet die Betonung der ästhetischen Produktivität der spannungsvollen Beziehung zwischen Deutschen und Juden, deren Differenz im Theater bzw. in der Theatermetaphorik des Modernismus kontinuierlich thematisiert wurde und zu einer auffälligen Erneuerung von dramaturgischen Motiven, Techniken und Darstellungsmethoden führte. Die Detailfreudigkeit der Untersuchung ist hierbei offensichtlich: Der Umfang des beachtlichen herangezogenen Textkorpus an Primär- und Sekundärliteratur kommt zum Ausdruck in den mehr als 900 Fußnoten der Arbeit. Ein Personen- und Werkverzeichnis, das sich in Anbetracht dieser Fülle der angeführten Autoren und Werke als durchaus hilfreich erweist, rundet die Publikation ab. […] [D]ie Arbeit [liefert] einen weit perspektivierten, elaborierten und aufschlussreichen Überblick über die Kulturgeschichte von Theater, Literatur und Philosophie in der deutsch-jüdischen Moderne. Übertragen auf ausgewählte modernistische Werke ermöglicht sie einen gelungenen Einblick in die spannungsvolle Dynamik der jüdischen Lebenslage und Identitätsfrage am Beginn des 20. Jahrhunderts. In seinen theoretischen und methodischen Anstößen geht der Autor dabei weit über die Grenzen der eigenen Fachdisziplin hinaus. Theatrum judaicum zeugt von der Bemühung, Theaterwissenschaft und Literaturwissenschaft einander weiter anzunähern. Shahar hat mit seiner Arbeit eine detaillierte, originelle und hervorragend recherchierte interdisziplinäre Studie bereitgestellt, deren Verdienst es in mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht nicht zuletzt ist, auf die nicht zu unterschätzende Rolle der zirkulierenden metaphorischen Denkfiguren in der Erfahrung jüdischer Selbstidentität hingewiesen zu haben. Vor diesem Hintergrund vermag Shahar deutlich zu machen, dass das Theater der Ort war, »in dem deutsch-jüdische Autoren nach dem Ursprung und der Tradition, nach der Zugehörigkeit und der Fremdheit, nach der Identität und der Differenz und wiederum nach der Zukunft des Judentums fragten.« (S. 336) Es handelt sich insgesamt um eine höchst kenntnis- und materialreich verfasste Studie, die als Ausgangspunkt für weitere Forschungen zum jüdischen Theater, zur modernistischen Literatur sowie auch zur deutsch-jüdischen Identität in den deutschsprachigen Kulturen dienen dürfte. Eindrucksvoll bringt der Autor zur Geltung, welchen vielfältigen kulturhistorischen Gewinn eine germanistische Studie über die ästhetische Interpretation des Judentums erbringen kann, ohne sich notwendig in textexegetische Details verlieren und den geschichtlichen Kontext vernachlässigen zu müssen. Das sachkundige Gleichgewicht zwischen Textinterpretation und Kontextwissen ist uneingeschränkt zu begrüßen. Es wäre wünschenswert, dass Galili Shahars wichtigste Thesen über die Prominenz von Theaterbildern und -metaphern für die Darstellung der deutsch-jüdischen Doppelidentität durch weitere Arbeiten zu Literatur und Theorie des Modernismus geprüft würden, denn sie eröffnen neue Fragehorizonte und lassen ein noch lang nicht ausgeschöpftes Diskussions- und Untersuchungspotential für die Zukunft erahnen.
Arvi Sepp in „IASLonline.de“
Die vollständige Rezension unter: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=2844