Hundezungen heilen Wunden: Nicht zuletzt aufgrund dieser medizinischen Funktion war die Zunge der Hunde in der älteren Literatur oft Metapher für die Sprache der Menschen. Vor allem die Hunde, die nach dem Evangelium die Wunden des armen Lazarus leckten, konnten auf das tröstende (,heilende‘) Sprechen von Predigern und Beichtvätern bezogen werden. Ein Gegenbild dazu liess sich im Bellen und Beissen finden, wenn es um Tadel und Mahnung (etwa Ketzern gegenüber) ging. Sah man von der Heilwirkung des Hundeleckens ab, dann wurde meist die ,hündische‘ Schmeichelei kritisiert: eine der traditionellen ,Sünden der Zunge‘. Mit dieser Bedeutungsambivalenz der Hundezunge problematisiert ein spätes Gedicht Heines (,Jehuda ben Halevy‘) die Leistungen der (modernen) Poesie.
Schumachers durch Literaturbeispiele und Bildzeugnisse reich dokumentierter Essay präsentiert ein etwas abgelegenes, doch höchst reizvolles Motiv aus der Metaphorik der ,Mündlichkeit‘. Zugleich leistet er einen kleinen komparatistischen Beitrag zur Anthropologie der Tiere in der europäischen Literatur.
Meinolf Schumacher
Ärzte mit der Zunge
Leckende Hunde in der europäischen Literatur
Von der patristischen Exegese des Lazarus-Gleichnisses (Lk. 16) bis zum Romanzero Heinrich Heines
AISTHESIS Essay 16
2019 [als Print-Ausgabe: 2003: ISBN 978-3-89528-310-9]
88 Seiten
ISBN 978-3-8498-1409-0
E-Book (PDF-Datei), 21 MB
Meinolf Schumacher, geb. 1954, lehrt als Privatdozent Germanistische Mediävistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an den Universitäten Wuppertal und Bielefeld. Veröffentlichungen zur historischen Semantik sowie zur deutschen und europäischen Literatur der Vormoderne, z.B.: Sündenschmutz und Herzensreinheit. Studien zur Metaphorik der Sünde in lateinischer und deutscher Literatur des Mittelalters (München 1996).
[…] Dass die Hundezunge in der mittelalterlichen Heilkunst als "Ärztin" personifiziert wurde, beruhte […] auf Erfahrungswissen. In einer augenzwinkernd gelehrsamen Abhandlung entwirft der Wuppertaler Mediävist Meinolf Schumacher eine Geschichte der metaphorischen Verwendung dieses Wissens.
In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 24.09.2003