Der Blick in den östlichen Ostseeraum reicht in den hier versammelten Beiträgen von Deutschland über Polen zu Litauen und Lettland bis hin zu Russland. Es ist zugleich ein Blick in die Geschichte, d.h. in ehemals deutsche, jetzt polnische, litauische, lettische und russische Gebiete.
Fraglos spielt Literatur beim Konstrukt ‚Grenze‘ eine wichtige Rolle; dies hat freilich im Umkehrschluss auch für deren Dekonstruktion Gültigkeit: Literatur besitzt die Fähigkeit, Grenzen zu überwinden kraft ihres Vermögens, eine Welt der Möglichkeiten aufzubauen. Auf diese Weise ist eine literarische Topographie nicht identisch mit der politischen. In der Literatur gestaltete Grenzen sind eigene Konstruktionen des Raumes und somit Teil einer ‚imaginären Geographie‘. Sie kann nicht nur zur Grenzziehung, sondern ebenso zum Grenzübertritt auffordern, so dass aus dem Schlachtfeld von einst ein gemeinsamer Kulturraum erwachsen kann.
Die ethnische Vielfalt der im Gebiet des östlichen Ostseeraumes lebenden Menschen hatte ein Zusammentreffen der Kulturen zur Folge, das keineswegs mit der Vorstellung einer friedlichen Symbiose zu assoziieren ist. Die aus der Komplexität der Vorgänge entstehende Interkulturalität erwächst vielmehr aus Assimilationsvorgängen, aus der kulturellen Anpassung an die dominierende Kultur. Zu einer Akkulturation, also der Begegnung zweier Kulturen auf gleicher Augenhöhe, aus der durch gegenseitige Angleichung eine dritte entsteht, ist es dagegen nicht gekommen.
Diese Chance bleibt als Möglichkeit uns Heutigen vorbehalten: Es wäre eine interkulturelle Kommunikation, die quasi einen neuen ‚Raum‘ eröffnet.
Regina Hartmann (Hg.)
Grenzen auf der Landkarte – Grenzen im Kopf ?
Kulturräume der östlichen Ostsee in der Literatur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
2010
ISBN 978-3-89528-767-1
324 Seiten
kartoniert
Regina Hartmann, seit 1990 Professorin für Neuere deutsche Literatur in Greifswald und zwischenzeitlich in Luleå/Schweden, hat seit 2000 den Lehrstuhl für Deutsche Literaturgeschichte/Kulturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Szczecin inne. Als Ergebnis der Forschungskooperation mit skandinavischen, polnischen und deutschen Partnern sind Buchpublikationen und eine Vielzahl von Aufsätzen zu interkulturellen Prozessen in der Literatur des Ostseeraums entstanden, so Bücher wie Deutsche Reisende in der Spätaufklärung unterwegs in Skandinavien (2000) oder Literaturen des Ostseeraums in interkulturellen Prozessen (Hg., 2005). Jüngst erschienene Aufsätze befassen sich mit der Globalisierung und Multikulturalität der Region Ostpreußen (2008), mit Königsberg in kollektiven Gedächtnisnarrativen (2009) sowie mit Topographien in romantischer Imagination: Ultima Thule und ihr Gegenbild (2009), Berge als Ort der Selbsterfahrung (2009).
Leseprobe: 9783895287671.pdf
[Regina Hartmann entwirft] ein äußerst überzeugendes kulturell-geschichtliches Bild, das „von Ost nach West gerichtet“ eine breite Spanne literarischer Schöpfung des 19. Jh.s umfasst. [In dem Sammelband findet sich] auch eine durchaus kritische Betrachtung, die vor dem Hintergrund der „Grenzen“-Thematik eine Anregung bietet, neue Denk-Impulse in Bewegung zu setzen.
Adam Jarosz in „Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung“ 60 (2011) H. 2
Der von Regina Hartmann herausgegebene Sammelband Grenzen auf der Landkarte – Grenzen im Kopf? gehört zu den wichtigsten Büchern der letzten Jahre, denn jenseits von Phantomschmerz und Verlustängsten eröffnet der den Forschern unterschiedlicher Nationen eine neue und entkrampfte Art des Umgangs mit der Kultur einer Germania submersa, wie sie in einstmals deutschen, aber nun außerhalb Deutschlands liegenden Gebieten immer noch sichtbar ist. Die Genettsche Metapher des Palimpsests wird als Möglichkeit aufgezeigt, diskontinuierliche Kulturüberlagerungen auf präzise Weise zu beschreiben, wobei einer jeden der freigelegten Kulturschichten ihr historischer Eigenwert zuerkannt wird.
René Sternke in „Germanisch-Romanische Monatsschrift“ (Bd. 62, Heft 4/2012)