Die Studie untersucht Diskurse zum Kolonialismus und seiner Kritik in Literatur und Geschichte der beiden Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und löst damit ein doppeltes Desiderat ein: Dem literaturwissenschaftlichen Forschungsstand zufolge haben deutschsprachige Schriftsteller erst im Zuge der Politisierung der 1960er Jahre die Problematik des Kolonialismus entdeckt; die Geschichtswissenschaften gehen davon aus, daß das kollektive Gedächtnis der Nachkriegsdeutschen von ›Prozessen des Vergessens‹ befallen ist, die als »(post)koloniale Amnesie« bezeichnet werden. Dagegen wird gezeigt, daß in der Nachkriegszeit sogar schon Fragen diskutiert wurden, die in jüngster Zeit im Kontext postkolonialer Ansätze aufgeworfen worden sind – Fragen nach einem möglichen Mittelweg zwischen Universalismus und Kulturrelativismus, nach Eurozentrismus, ›Othering‹, Differenz, ›Whiteness‹ usw. Diese Neuperspektivierung der westdeutschen Nachkriegszeit wird auch zum Anlaß für eine kritische Sichtung zentraler Prämissen der anglophonen postkolonialen Theorieansätze und versteht sich als Beitrag zu der aktuellen Debatte um Möglichkeiten einer über die thematisch-ideologiekritische Ebene hinausgehenden, spezifisch literaturwissenschaftlichen Teilhabe an den postkolonialen Studien.
This study is a theoretically informed investigation of discourses on colonialism and its critique in the post-war period. It also addresses and disputes two assumptions prevalent in current scholarship. The first assumption emanates from current research in literary studies and contends that it was only in the course of the increasing political awareness from the mid-1960s onwards that German writers discovered the problems of colonialism and neo-colonialism. The second derives from the historical sciences where scholars claim that the »cultural memory of the second postcolonial phase« in Germany »which began after World War II and lasted well into the 1960s« is affected by »processes of forgetting«, also known as »colonial« or »postcolonial amnesia«.
In challenging these assumptions this study follows a tripartite structure. The first part analyzes discourses on colonialism and decolonization in intellectual journals and news magazines, showing the specific German contribution to this European post-war debate and proving that in this context too the allegedly forgotten German colonial past was an important issue. The second part reconstructs postcolonial discourses in West German literature of the 1950s and introduces a wide range of literary treatments of historical and contemporary colonialism. The third part is a methodological experiment in which the premises of postcolonial theories are put to the test. This section poses questions about new insights that might be gained, for example, by adopting the approach of feminist postcolonial scholars like Uma Narayan to explain Max Frisch’s writing; by using the writings of Marie Luise Kaschnitz as a mirror to scrutinize the premises of postcolonial historians like Dipesh Chakrabarty; or by investigating Wolfgang Koeppen’s narrative strategies in the context of Toni Morrison’s premises and those of other whiteness studies scholars. While critically applying key terms and concepts of postcolonial theories such as eurocentrism, universalism, cultural relativism, difference, ›othering‹, ›whiteness‹, etc. to literary texts, this part of the study is intended primarily as a contribution to current debates about the possibilities for literary studies to participate in postcolonial studies at a level far beyond a thematic critique of ideology.
Monika Albrecht
»Europa ist nicht die Welt.«
(Post)Kolonialismus in Literatur und Geschichte der westdeutschen Nachkriegszeit
2008
ISBN 978-3-89528-696-4
308 Seiten
kartoniert
Monika Albrecht unterrichtet nach Dozenturen in den USA, Süd-Korea, Irland und England seit Herbst 2008 an der University of Limerick (Irland). Sie hat zahlreiche Aufsätze zur Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts veröffentlicht und ist Mitherausgeberin von kritischen Editionen des Werks von Ingeborg Bachmann. Zur Zeit arbeitet sie an einem neuen Projekt mit dem Arbeitstitel Postkolonialismus und Multikulturalismus.
Leseprobe: 9783895286964.pdf
Die Studie demonstriert, wie erhellend der postkoloniale Blick auf die deutsche Literatur sein kann – nicht zuletzt, weil diese manche theoretische Grundüberzeugungen und Implikationen (v.a. des Kulturrelativismus und der Whiteness-Studies) in Frage stellt. Eine wichtige Pionierarbeit mit vielen Hinweisen für künftige Forschungen.
Herbert Uerlings in „Germanistik“, Band 49 (2008), Heft 3-4
[...] Albrecht's is not only a very timely book in its attempt to reconstruct an important and neglected decade in the pre-history of our current set of global concerns, but also in that it reminds us of the pitfalls and limitations of hindsight and of restrictiveness of some theoretical frameworks if taken as gospel. The study shows how productive it is to 'historicise' the 'long 1950s' rather than to attribute to this period the status of quasi-present, treating ist as thought it were an undifferentiated extension of our own post-War experience; the study shows further that the German textual analysis and historical approach provides a much-needed counterbalance to American theorizing when it comes to understanding discourse on the Übersee from a postcolonial perspective. [...]
Florian Krobb in „Germanistik in Ireland“ 4/2009
[...] Es ist ein klar durchargumentiertes Buch, voller erhellender Textbeispiele und gut informierter Einwürfe in die internationale Diskussion der Postcolonial Studies – mithin eine Untersuchung, die die deutschsprachige Literaturwissenschaft auf diesem Gebiet ein gutes Stück weiter bringt. [...] Albrechts Buch vermittelt mit solchen erhellenden Beispielen eine Ahnung davon, wie viele neue Blickwinkel gerade die kritische Auseinandersetzung mit internationalen Theorien der Postcolonial Studies oder auch der Whiteness Studies auf die deutschsprachige Literatur eröffnen kann. Weder kann es darum gehen, im Sinne kultureller Essentialisierungen endlich etablierte Formen der Kritik einfach wieder unter den Tisch fallen zu lassen – noch darum, Literatur eindimensional als Tradierungsform kolonialer oder rassistischer Stereotypen zu ‚enttarnen‘ und damit ein für allemal zu ‚erledigen‘. Man muss im Einzelfall eben genauer hinsehen, um zu erkennen, dass Literatur immer auch subversiv wirken und Alternativen zu kolonialen Weltdeutungsmustern aufzeigen konnte. [...]
Jan Süselbeck in „literaturkritik.de“ (11/2009)
Hier ist die Rezension vollständig zu lesen: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=13680
Monika Albrecht zeigt auf, dass in der Literatur der frühen Bundesrepublik schon Fragen diskutiert wurden, die erst in jüngster Zeit mit den postkolonialen Debatten aufgeworfen wurden.
Ulrich van der Heyden in „Neues Deutschland“ (12./13.06.2010)
[…] Durch den Blickwinkel der postkolonialen Studien kann Albrecht Fragestellungen an die Texte heranbringen, die sie in einem ganz neuen Licht zeigen und in neue Zusammenhänge rücken. […] Monika Albrechts Studie „Europa ist nicht die Welt“ (Post)Kolonialismus in Literatur und Geschichte der westdeutschen Nachkriegszeit zeugt dagegen von einer ausgiebigen kritischen Auseinandersetzung mit den wichtigsten Positionen der postcolonial studies. Albrecht zeigt, dass es in der Nachkriegszeit durchaus eine intensive Betrachtung der deutschen kolonialen Vergangenheit in den Medien und Literatur gegeben habe. Weiterhin wendet sich Albrecht gegen die These, dass die postkoloniale Sicht auf diese Zeitepoche der deutschen Kulturgeschichte in der deutschsprachigen germanischen Forschung sozusagen rein als Theorieimport (aus den USA) und noch dazu verspätet eingetroffen sei. Sie kann diese Meinung entkräften mit dem Hinweis auf die Tradition der interkulturellen Germanistik, die im deutschsprachigen Raum produktive und innovative Forschung zum Konzept des Fremden vorgelegt habe. […] Der spezifische Beitrag von Albrechts Studie besteht in der breiten Sichtung einer Fülle von Material aus den „langen“ fünfziger Jahren zur Neubewertung der essayistischen und literarischen Produktion dieser Zeit aus postkolonialer Sicht.
Sabine Wilke in „Monatshefte“ (Vol. No. 3, 2011)
Die vorliegende Studie ist ein nuancierter Beitrag zur deutschsprachigen Nachkriegsliteratur mit einer kritischen Neubewertung von journalistischen, essayistischen und literarischen Texten und Diskussionen im Kontext des historischen und deutschen Kolonialismus, beeinflusst durch eine differenzierte Perspektive der zeitgenössischen Forschung des Postkolonialismus.
Hiltrud Arens in: „German Studies Review“ (34/3, 2011)