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Wie beschreiben literarische Texte das Fremde? Diese zentrale Frage ‚postkolonialer‘ Literatur- und Kulturwissenschaft nach der Repräsentation von Alterität ist durch zwei weitere Fragen zu ergänzen: Welche Eigendynamik haben diese Inszenierungen? Und welche ästhetischen Konsequenzen? Die Auseinandersetzung moderner Literatur mit Andersheit (kulturell, sozial, geschlechtlich) ist nicht ideologisch geschlossen; sie läßt sich angemessener als dynamische Komplikation beschreiben: nicht allein als eine Konstruktion, sondern als ein „Schwinden der Differenz“. Und sie funktioniert nicht nur auf der thematischen Ebene, sondern auch poetologisch: in der literarischen Form. Als Fallbeispiele dienen vier Werke der literarischen Moderne, die Alterität in autobiographischen Genres anhand von Reisebewegungen konfigurieren: Alexander von Humboldts amerikanischer Reisebericht, Relation historique du Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent (1814-1831), stellt in seiner Poetik die Möglichkeit, über den fremden Kontinent einen kohärenten Diskurs etablieren zu können, radikal in Zweifel. Bram Stokers Dracula (1897) beschreibt, wie der Vampir fiktional hervorgebracht, imaginär bekämpft und kulturell verunmöglicht wird. Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1920) codiert den Krieg in bildlichen Sequenzen, deren Widersprüchlichkeit als Symptom einer Verunsicherung lesbar ist. Und Jean Genet schildert im Journal du voleur (1949), wie der Versuch, sich selbst als Außenseiter der Gesellschaft zu definieren, in Aporien gerät.
Oliver Lubrich
Das Schwinden der Differenz
Postkoloniale Poetiken
Alexander von Humboldt – Bram Stoker – Ernst Jünger – Jean Genet
2004
ISBN 978-3-89528-454-0
364 Seiten
gebunden
Oliver Lubrich, geboren 1970 in Berlin, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Berlin, Saint-Étienne und Berkeley. Er unterrichtet am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin. Übersetzung des Romans Los amigos y el viento von Virginia Grütter Jiménez (Ludwigsburg 1996). Kurator der Ausstellung Zeichen des Alltags – Jüdisches Leben in Deutschland heute (diverse Standorte in Deutschland und Österreich, 2000-2004). Publikationen zu Alexander von Humboldt, Dracula und James Bond, postkolonialer Museologie, jüdischen Studien und Shakespeare (Shakespeares Selbstdekonstruktion, Würzburg 2001).
Postkoloniale Theorie boomt. Die deutsche Literatur aber krankt an wenig repräsentativen Texten, die sich zur Analyse anböten. Das man diesen Mangel auch produktiv verstehen kann und Texte in den Blick rückt, sie gegen den Strich liest, die auf den ersten Blick kaum miteinander zu tun haben, erweist sich in Oliver Lubrichs Dissertationsschrift als Stärke. Anhand von vier äußerst dichten Lektüren von Alexander von Humboldts „Relation historique“ (1814ff.), Bram Stokers „Dracula“ (1897), Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ (1920) und Jean Genets „Journal du voleur“ (1949) zeichnet Lubrich Alterität in autobiografischen Genres als poetologisches wie thematisches Gestaltungsmoment nach.
Die streng textbezogene Lektüre versteht es vorzüglich, die doch gelegentlich überbordende Eigendynamik der postkolonialen Theorie auf die konkreten Texte anzuwenden. Gerade dieser scheinbar eher fern liegende Bezugspunkt der Alterität erweist sich als konzise Zugriffsfigur, die das jeweils „Andere“ in einen gelegentlich verblüffenden Zusammenhang zu stellen versteht. Stellvertretend sei das Dracula-Kapitel erwähnt: Lubrich arbeitet heraus, dass der Sieg von Harker und Van Helsing über den Vampir, der als das „ganz Andere“ zur britischen Lebenswelt fungiert (Transsylvanien, Untoter, Multisexuell etc.) und der durch das Vordringen der Technik, vor allem der immer schneller werdenden Kommunikationsmittel, besiegt werden kann: Der Pfahl, den Van Helsing dem Vampir ins Herz rammt, ist gleichzusetzen mit dem Telegraphenmast, der den anfänglich dominierenden Brief ablöst.
Lubrichs hochreflekierte Lektüre genießt den Vorzug, gängige Denkmodelle der postkolonialen Theorie am konkreten Text belegen zu können. Dennoch verwundert es, wenn in Fragen autobiografischer „Genera“ plötzlich – trotz Lubrichs offenkundiger Kenntnis der neueren Theorien (de Man, Derrida) – der strukturalistische Ansatz Lejeunes wiederbelebt wird, der doch bei der Analyse solch ambivalenter Texte langsam ausgedient haben sollte. Begrüßenswert hingegen scheint der Ansatz, „deutsche“ Texte, also auch Humboldts auf Französisch verfasstes Monumentalwerk – Lubrich fungiert auch als Herausgeber des Humboldt’schen „Kosmos“ in der Anderen Bibliothek – europäisch zu kontextualisieren.
Das „Schwinden der Differenz“ – also die Verflüchtigung einer zunächst in den Texten vermuteten Alterität – erweist sich als sinnfällige wie anschlussfähige Lektüremöglichkeit; der fremde Kontinent, der mythische Vampir, der mechanisierte Weltkrieg und der soziale Außenseiter stellen keine schlüssigen Konzepte von Andersheit zur Verfügung, sondern zeigen das Maß ihrer Konstruiertheit auf. Es sind Motive, die sich im Vollzug der Lektüre selbst dekonstruieren und sich mithin als literarisch simuliert erweisen.
Christoph Schmitt-Maaß in „literaturkritik.de“ (April 2006)