Reisen ist seit Menschengedenken ein Urbedürfnis, darüber zu berichten nicht minder. Bereits die unterschiedlichen Genera der Reiseliteratur (Reiseführer, Reportage, Reisebeschreibung, Essay, Tagebuch, Brief usw.) unterstreichen ihr Oszillieren zwischen Faktizität und Fiktionalität, zwischen Information und Erzählung. Reisen war im Mittelalter freiwillig, wenngleich zweckgebunden: Pilger, Kaufleute, Studenten, Soldaten und Kleriker machten sich auf den Weg. Aufgrund fehlender Transportmittel und -wege dauerten Reisen häufig mehrere Jahre und wurden leicht zur Lebensreise. Schon bald traten Entdecker hinzu, die die Erde bis in ihre letzten Winkel erforschen wollten und in ihren Berichten Toposwissen mit Erfahrungswissen mischten. Das Lesepublikum wollte unterhalten werden, weshalb die Verfasser ihre Abenteuer übertrieben und nicht mit Klischees sparten, um die Erwartungen ihrer Rezipienten nicht zu enttäuschen.
Nach der Reformation wurden immer wieder Flüchtlinge aus religiösen und politischen Gründen ins Exil gezwungen. Junge Männer von Stand machten in Begleitung von Erziehern und Haushofmeistern eine längere Bildungsreise oder Kavalierstour. Im 19. Jahrhundert entdeckten die Briten die Vergnügungsreise, die sich heute zum Massentourismus entwickelt hat. So unterschiedlich die Motive der Reisenden und die Art und Weise ihrer Berichterstattung auch sein mögen, Ortsveränderungen konfrontieren ihre Subjekte mit der Fremde und stellen die eigene Identität immer wieder von Neuem auf den Prüfstand.
Der vorliegende Sammelband bietet neben gut verständlichen Grundlagenkapiteln ein Panorama kritisch betrachteter Reiseberichte aus dem Städtedreieck Berlin-Paris-Moskau in der Zwischenkriegszeit. Unter den Verfassern finden sich erlauchte und weniger bekannte Namen aus Deutschland, Frankreich, der Schweiz, Russland und Japan. Zur Gruppe der prominenten Reisenden gehören beispielsweise Joseph Roth, Michel Butor und Andrej Belyj, wohingegen Annemarie Schwarzenbach, Lothar-Günther Buchheim und Fedor Stepun gerade erst als Reiseautoren entdeckt werden.
Ihre thematische Geschlossenheit erhält die Sammlung durch die Konzentration auf drei Metropolen: Berlin steht in den Jahren der Weimarer Republik für eine rasante Modernität nach amerikanischem Muster, um nach 1933 zur Kapitale des nationalsozialistischen Terrors zu mutieren. Paris zehrt noch lange vom Glanz der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ (Walter Benjamin), weshalb nach 1933 die aus den faschistischen Ländern vertriebenen Intellektuellen dort ihre erste Zuflucht suchen. Moskau wird nach der Oktoberrevolution für die Linken zum Ort politischer Utopie, für die Gegner des Kommunismus zum Hort des“ roten Terrors“.
Aufgrund ihrer Mehrfachnatur entwickelt jede der drei Metropolen ihre ganz spezifische Semiotik, die von den Reisenden, je nach schriftstellerischem Temperament und politischer Position, entschlüsselt wird. Die höchst unterschiedlichen Ergebnisse dieser Deutungsprozesse lassen sich zwischen zwei Extrempositionen verorten, die hier eindringlich beschrieben werden: Reisen als ideologische Vergewisserung und Reisen als Kunstgenerator.
Charlotte Heymel bespricht einen 1937 erschienenen Berlinführer zweier SA-Männer, der einseitig die Kampfstätten der nationalsozialistischen Eroberung privilegiert. Der in New York lebende Japaner On Kawara hingegen erhob das Reisen zur seriellen Kunst, indem er täglich an Freunde Postkarten verschickte oder auf Stadtplänen die als Flaneur zurückgelegten Tagesstrecken vermerkte.
Frank-Rutger Hausmann in der „Süddeutschen Zeitung“ (07.06.2005)
[...] Zur räumlichen Konzeptualisierung der Geschichte des 20. Jahrhunderts liegt hier ein wichtiger Beitrag vor, dessen Fortsetzung zweifellos lohnend erscheint.
Frank Göbel in „osteuropa“ (Heft 7 / Juli 2006)
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