Aus der Kritik |
Charlott oder Scheiden tut nicht immer weh
Wiederentdeckt: Wilhelm Speyers Roman von 1927
In jener Epoche begann Berlin ein Gesicht zu zeigen, das Liebe erweckte. Auch zeigten sich jetzt die ersten Ansätze zu einem demokratischen Großstadt-Frohsinn. In den Gliedern dieser einst so ungelenken Stadt voll protestantischer Staats- und Militärphilosophie zuckte ein anglimmendes Feuer. Ein Wille zum Leichtsein, zumal in den Frühlings- und Sommermonaten, begann dem Leib der Metropole die ersten, nicht mehr ganz unbeholfenen Bewegungen mitzuteilen. Sogar die Polizeibeamten hatten gelernt, zuweilen zu lachen.“
Man schreibt das Jahr 1926 und damit jene Zeit nach der Hyperinflation, die man mit Soziologenumstand die Phase relativer Stabilisierung der Weimarer Republik zu nennen pflegt. Die gerade zwanzigjährige Charlott prescht mit ihrem Freund Holk über die Avus. Der Kompressor heult und schon ist man bei 130. Ebenso rasant erklärt sie ihrem Beifahrer, dass sie ihren Mann, von dem sie vor wenigen Monaten geschieden worden war, wieder heiraten wolle, weil der inzwischen bankrott sei. Sentimentalität? Liebe? Wer weiß. So etwas spricht man neusachlich nicht aus.
Ihr geschiedener Mann Justus wiederum simuliert den Bankrott bloß, um die gerade klamme, aber zukünftige Erbin eines Millionenvermögens in ihrem Scheidungsentschluss zu bestärken. Damit sind wir auf einem Terrain, das amerikanische Filmkomödien zu beackern pflegen, aber in Deutschland, vor allem dem jener Jahre, wahrlich nicht kultiviert wurde. „Charlott etwas verrückt“ war der Hit des Jahres 1927, ein Bestseller, in allen Feuilletons und in allen öffentlichen Verkehrsmitteln präsent. „Ein Buch wie Champagner“ – so pries es sich damals auf dem Titel. Der ist auch heute noch nicht verschalt, weiß immer noch amüsant zu prickeln. Und das mit großem Geschmack. Überhaupt ist es das, was das Buch auszeichnet – sein Geschmack. Heiter, souverän kosmopolitisch, liefert Wilhelm Speyer ein Bild jener Jahre, wie sie im kleinen Kreise auch waren und allgemeiner hätten sein können, wenn nicht eifernde Kleinkariertheit Oberwasser bekommen hätte.
Speyer wurde 1887 als Sohn eines Fabrikbesitzers im Berliner Westen geboren und war Autor unterhaltsam-melancholischer Erzählungen, erfolgreicher Boulevardstücke und des berühmten Jugendbuchs „Kampf der Tertia“. Die Zeitgenossen verglichen ihn bewundernd mit Wilde, Musset oder Goldoni. Sieburg feierte ihn als Solitär einer weltläufigen Literatur. Für die Nazis war Speyer nicht nur verdächtig weltläufig, sondern auch Jude. 1933 musste er aus Berlin fliehen. Im Exil schrieb er einen Roman, der vom Dreikaiser-Jahr 1888 im jüdischen Großbürgertum handelt – „Das Glück der Andernachs“. Es wäre ein Glück, wenn auch der 1947 kaum wahrgenommene Roman wiederaufgelegt würde.
Erhard Schütz in „Die Welt“ (22. Dezember 2007)
Ganz schön verrückt
Wilhelm Speyers ungemein lebendiger Roman über die neue Frau, den neuen Mann und das neue Berlin erscheint in einer Neuausgabe
So lernen wir Charlott kennen: Auf der Fahrt über die Automobil-Verkehrs- und Übungs-Straße, kurz Avus, bei der sie aus dem Auto herausholt, was sie will. Immerhin soviel, dass es ihrem männlichen Begleiter Holk den Atem verschlägt. Zwar sind es nur 130 Sachen, auf die sie den Wagen beschleunigt – vergleichbare weibliche Geschwindigkeitsräusche finden heute sicherlich jenseits der 200 Stundenkilometer statt -, aber dieser Charlott ist anzumerken, dass sie weiß, was sie will und das auch noch in jedem Fall bekommt. Und dass Tempo ihre Existenzform ist. Charlott ist jung, knapp 21 Jahre alt (in einem fiktiven Jahr 1906 geboren), sie ist lebendig, sie ist schlank, sie ist eine neue Frau, ohne Zweifel.
Dazu ist sie ein Ideal, wie es in Wilhelm Speyers Roman „Charlott ein bißchen verrückt“ heißt: „eine antike Göttin mit den Hüften und den Brüsten des 20. Jahrhunderts“. Ganz anders ihr Ex-Ehemann Justus Verloh, der der genaue Gegenentwurf Charlotts ist. Sein Ideal ist ein 250 Pfund schwerer chinesischer Staatspräsident. Er verweigert sich dem Bewegungs- und Schlankheitsideal seiner Zeit, er ist phlegmatisch und elegant gekleidet, und ein ungemein leichter Tänzer, ja geradezu der „Gott des Charlestons“. Und Charlott – kaum von ihm geschieden – will ihn wieder heiraten. Nur leider ist Justus zwischenzeitlich – vermeintlich – verarmt (natürlich ist alles gelogen).
Da hilft es nichts, die Erbschaft muss her (wenn es denn eine gibt, und es gibt eine). Nur schade, dass Charlott die anderthalb Millionen erst in fünf Jahren erhalten soll. Und die Erbverwalterin Cornelia (eine gut erhaltene 45jährige hätte man früher gesagt, damals aber eine perfekte, harte und hennarot und mit allen Wassern gefärbte Geschäftsfrau) rückt keinen Pence der Erbschaft heraus, bevor Charlott nicht 25 ist. Das alles natürlich unverzinst. Fünf Jahre, und das unverzinst, ist aber eine viel zu lange Zeit.
Es hilft also ein weiteres Mal nichts: Wer so hartleibig ist, der muss betrogen werden. Deshalb zieht Charlott ein großes Manöver auf, an dessen Ende sie die „bedeutendste Publikation menschlichen Geistes“ entgegennimmt, einen Scheck über anderthalb Millionen Britische Pfund. Das wäre auch heute noch ein großes Vermögen, wieviel erst in den damaligen Zeiten?
Wilhelm Speyer, der Charlott erfunden hat („alles erfunden, wozu ist man Romancier“ lässt er eine seiner Figuren sagen), ist vielleicht noch den leidenschaftlichen Kinderbuchlesern bekannt, durch den „Kampf der Tertia“ oder durch dessen Fortsetzung „Die goldene Horde“. Selbstverständlich hat der 1887 in Berlin als Sohn einer jüdischen Fabrikantenfamilie geborene Speyer noch viel mehr geschrieben. Die Bücher des Erfolgsautors, der 1933 in österreichische, 1938 ins französische Exil ging, sind heute aber nur noch im Antiquariat zu haben. Bis eben auf „Charlott“, die Walter Fähnders und Helga Karrenbrock endlich wieder in einer Neuauflage herausgebracht haben. Keiner der großen Publikumsverlage hat sich jedoch dieses Kleinods der deutschen Unterhaltungsliteratur angenommen, sondern der leider nur unter Germanisten bekannte Aisthesis Verlag in Bielefeld. Anscheinend sammeln sich in Bielefeld nicht nur durchgedrehte Systemtheoretiker, sondern auch noch andere Verrückte – ohne die unsere Welt um so manch schöne Idee und manch liebenswertes Buch ärmer wäre. Wilhelm Speyers „Charlott“ also nicht bei Ullstein, Fischer, Rowohlt oder dtv – sondern bei Aisthesis. An die beiden waghalsigen Verleger dafür schon einmal den besten Dank.
Was „Charlott“ so bemerkenswert und liebenswert macht? Die Leichtigkeit, Frische und Heiterkeit, die Speyer nicht nur seiner kleinen, gut 200 Seiten umfassenden Erzählung gegeben hat, sondern auch seinen Figuren, seiner Szenerie, seinem Berlin und seinem Paris. Das bohemistische Berlin der 1920er-Jahre ist selten so genau und ironisch geschildert wie in Speyers „Charlott“, dabei ohne Häme und ohne den bitteren Spott, den man manchmal sogar Erich Kästners „Fabian“ anmerkt. Spott ist okay, aber freundlich soll er sein. Und Speyer ist freundlich.
Natürlich ist die Geschichte ein großer Schmarrn. Der groß angelegte Betrugsversuch, den Charlott inszeniert, um ein paar Jahre früher an ihre Erbschaft zu kommen, ist so durchsichtig, wie er nur sein kann. Darauf fällt nicht einmal eine Cornelia herein. Aber weiß der Himmel warum, der Spaß ist ihr am Ende immerhin so viel wert, dass sie bereitwillig das gewünschte Geld auszahlt (es bekommt ja keine Arme, wie sie weiß, denn sie durchschaut Justus' Betrug) und das Ganze in einer grandiosen Hochzeit enden kann. Ein „triviales“ Buch, diese „Charlott“, kein Zweifel. Kein Schimmer vom wahren Elend dieser 1920er-Jahre, kein Hinweis auf die politischen Kämpfe, Brüche und Bewegungen, und dennoch ist es große Unterhaltung, amüsant und endlich wieder neu zu haben.
Walter Delabar in „literaturkritik.de“ (Januar 2008)
[...] Das Buch hat alles, was dem Bild der „Goldenen 20er Jahre“ entspricht. Vor allen Dingen eine kapriziöse, lebenshungrige Hauptdarstellerin, die weiß, was sie will [...]. Ein Buch, wahrlich prickelnd und spritzig wie Champagner, das wir als Fortsetzungsroman ab heute unseren Leserinnen und Lesern bestens empfehlen.
Manfred Strecker in „Neue Westfälische“ (14.04.2008)
Zeitdokument mit Champagner: Charlott ist eine junge Frau aus den 20ern des letzten Jahrhunderts, die geradezu das Idealbild der ‚Neuen Frau‘ verkörpert. Sie fährt gerne Auto – und das betont schnell. Sie ist charmant und raffiniert, scheut das Verbrechen nicht, weiß dabei um die Waffen der Frauen und ihren selbstbewussten Einsatz. Sie ist das alles überstrahlende Zentrum der illustren Welt der Berliner Oberschicht, die Wilhelm Speyer in seinem 1927 erschienenen Roman „Charlott etwas verrückt“ porträtiert. [...]
Jessica Stegemann in „city-trends.de“ (April 2008)
Der zuerst im Ullstein-Verlag 1927 erschienene Roman war seinerzeit ein Bestseller - er ist ein Musterbeispiel für die Unterhaltungs- und Zerstreuungskultur der Weimarer Republik mit dem Ambiente von Großstadt und Tempo, von ‚Neuer Frau‘, der Neuordnung der Geschlechterbeziehungen und einem Schuss Neuer Sachlichkeit.
Anon. in „Universitätszeitung Osnabrück“ (April 2008)
„Ein Buch wie Champagner: spritzig, heiter, überschäumend“ - so steht es auf dem Umschlag des alten, schiefgelesenen Exemplars aus der Ullstein-Reihe, das ich vor ewigen Zeiten mal aus dem Ramsch gefischt habe. Wer auf sich hielt, hielt damals, in den angeblich goldenen Zwanzigern, jene auffällig gelben Bände vor sich, wenn er im Café saß oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln, zumal in Berlin, unterwegs war. Die Ullstein-Bände waren „in“. Und im Jahr 1927 war der Roman, auf dem der Spruch mit dem Champagner stand, der Sommerhit: Wilhelm Speyers „Charlott etwas verrückt“. Um die prickelnde Verrücktheit zu unterstreichen, tanzten die Buchstaben über das Cover mit der stoisch blickenden, blauen Eule. Jetzt gibt es den Roman wieder. Beim Aisthesis Verlag in Bielefeld. Nun ist der Umschlag zwar kräftig blau, aber die Buchstaben tanzen immer noch.
Er ist erstaunlich frisch geblieben. Fast mehr noch als seine Frische macht seine gelinde Fremdgewordenheit den Reiz des Wiederlesens aus. Ein bisschen wie Irmgard Keuns „Das kunstseidene Mädchen“, mehr aber noch wie Vicki Baums „Menschen im Hotel“ - nur überdrehter als alle zusammen kommt das Buch daher, das gleich damit beginnt, wie Charlott im Cabrio ziemlich verrückt über die Avus rast. Mit damals kaum vorstellbaren 130 Sachen! [...] „Turbulent“ ist das Mindeste, was man [zur Handlung des Romans] sagen kann. [...]
Erhard Schütz in der Rubrik „Wiedergelesen“ aus „Das Magazin“ (03/2008)
[...] Unter der „prickelnden“ und Leichtigkeit suggerierenden Oberfläche werden in Charlott etwas verrückt [...] einige zentrale kulturelle Fragen, die in der Weimarer Republik virulent waren, verhandelt. [...] Charlott verkörpert [...] den Zeitgeist, wie der Erzähler in Schilderungen ihres Äußeren und ihres Tagesablaufs immer wieder betont. [...] Referenzen an zeitgenössische Filmschauspieler, Stars des Berliner Nachtlebens, Schlagertitel und Tänze, Schriftstellernamen wie Markenbezeichnungen erinnern an postmoderne Werke der Popliteratur [...] In ihrem [kenntnis- und facettenreichen] Nachwort betonen Fähnders und Karrenbrock den Zeitgeistcharakter des Romans, der auch von der zeitgenössischen Kritik positiv hervorgehoben wurde. [...]
Christiane Nowak in „Deutsche Bücher“ (Heft 2 , 2008)
Wilhelm Speyers „Charlott etwas verrückt“ ist erstmals 1927 bei Ullstein in Berlin erschienen und zeigt eine Protagonistin, die das Sinnbild der ‚Neuen Frau‘ verkörpert: emanzipiert, selbstsbewusst, knabenhaft, sportlich.[...]. Ihr Tempo ist schwindelerregend. – Ein absolut empfehlenswerter Roman!!!
Kundenrezension von ‚Lucinde‘ aus Oberhausen (eingestellt bei amazon am 22.11.2008)
Die ganze Rezension: http://www.amazon.de/review/product/389528646X/ref=dp_top_cm_cr_acr_txt?_encoding=UTF8&showViewpoints=1
Buchvorstellung in „lettratv“ bei „dailymotion.com“: http://www.dailymotion.com/video/xmzzo3_buchtipp-charlott-etwas-verruckt-von-wilhelm-speyer_fun
[...] jetzt ist es an der Zeit, ein Werk, das sich von der Kaiserzeit bis in die Jahre nach 1945 erstreckt, ästhetisch und kulturgeschichtlich auszuloten. Ein vielversprechender Auftakt dazu ist mit den hier besprochenen Veröffentlichungen, der Neuausgabe des Romans Charlott etwas verrückt mitsamt seinem gehaltvollen Nachwort, und den zehn Einzeluntersuchungen gemacht.
Momme Brodersen in „IASLonline“ (Dezember 2011)
Die vollständige Rezension unter: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3141
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