Aus der Kritik |
Erst die neueste Geschichte mit ihrer vergleichsweise enormen Überlieferungsmasse hat es erlaubt, das an illustren Menschen entwickelte Genre der Biographie auch auf typische, wenn man so will: durchschnittliche Menschen auszudehnen. Nichts macht eine Epoche oder eine Gesellschaft der Vorstellungskraft so zugänglich wie eine in diesem Sinn repräsentative Biographie. Der Ablauf des Lebens zwischen Geburt und Tod bleibt das Urmeter historischer Zeit.
Manfred Fuhrmann, der Konstanzer Altphilologe, der Biograph Ciceros und Senecas, Historiker der abendländischen Bildung und besonders des deutschen Bildungsbürgertums, hat nun die Lebensbeschreibung eines nicht gewöhnlichen, aber eben auch nicht seine Epoche überragenden Mannes vorgelegt; sie erhellt eine ganze Zeit in ihrer monströsen Außerordentlichkeit: die erste Hälfte des deutschen 20. Jahrhunderts.
Fuhrmann zeigt in dem Theatermann Hans Kaufmann (1876 bis 1957) einen typischen Bildungsbürger, musisch, belesen, dem Höheren zugewandt, aber zugleich im Irdischen außerordentlich tüchtig.
Kaufmann war Berliner, Sohn eines Börsenmaklers und Charlottenburger Stadtverordneten; von früh an wollte er zur Bühne, musste aber, den nüchternen Sitten der Zeit folgend, erst zum Dr. iuris promovieren, bevor er seiner Neigung – oder Berufung – folgen durfte. Er wurde Dramaturg, Regisseur, Intendant, und so seit 1900 zum mitwirkenden Zeitgenossen einer großen Theaterepoche. Bei Otto Brahm hatte er einen am Ensemblespiel orientierten naturnahen Inszenierungsstil gelernt, die Leitsterne seiner Jugend waren Ibsen, Strindberg, Hauptmann. Doch auch der Oper galt seine Liebe und Begabung, Mozart, Verdi, Wagner, Strauss, Schreker, Hindemith – fast alle Großen und viele Kleinere wie Lortzing hat er aufgeführt und inszeniert, erst am Schillertheater in Berlin, dann in Braunschweig und Bern, wo Kaufmann während der zwanziger Jahre Theaterdirektor war. Außerdem war Kaufmann jüdischer Herkunft. Das ist der eine Faktor, der ein ganz und gar gelingendes Leben ins Unglück stürzte. Fuhrmann spricht hier als Zeitzeuge, denn es war seine Familie, die dem Geächteten im Zweiten Weltkrieg für ein paar Jahre Unterschlupf gewährte.
Es ist schwer zu entscheiden, was mehr zu der Erschütterung beiträgt, mit der man dieses minutiös dokumentierte, liebevolle Buch liest: die wundervolle Rekonstruktion einer noch ganz intakten, freien und lebhaften Bildungswelt zu Beginn – im Leitmedium der Theatergeschichte – oder der grausige Sturz in ein sinnloses Unheil. Beides zusammen ergibt das Bild der Zeit. Kaufmann kam für mehr als zwei Jahre nach Theresienstadt und überlebte; die Fuhrmanns verdankten ihre Rettung wohl einem nachsichtigen SS-Offizier. Wozu sind Kultur und Bildung gut? Das ist die Frage, die über diesem historiographischen Kleinod schwebt.
Sie konnten das Schreckliche nicht verhindern; aber sie halfen Kaufmann zu überleben – durch den idealistischen Glauben an die Menschheit –, und sie bewähren sich in einer Erinnerung, die das Gewesene mit Nachdenklichkeit festhält. Fuhrmann begreift sein Werk ausdrücklich als Beitrag zu den jüngsten künstlich aufgeputschten Antisemitismus-Debatten der Feuilletons. Es berichtet von Umständen, in denen Humanität sich mit Leib und Leben bewähren musste und kein Lippenbekenntnis war.
Gustav Seibt in der „Süddeutschen Zeitung“, 06.08.2003
[…] In diesem Buch geht es jedoch weniger um Berühmtheiten, im Gegenteil. Es ist zum Teil ein geradezu archäologisches Buch, in dem unbekannte Namen ausgegraben werden, um der vielschichtigen Theatergeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts eine vergessene Facette zurückzugeben. Hans Kaufmann scheint ein experimentierfreudiger Praktiker gewesen zu sein, dem es Spaß machte, Neues zu entdecken, Stücke ur- oder erstaufzuführen und dabei auch mal Risiken einzugehen. […] Und dann gibt es noch einen anderen Aspekt. Hans Kaufmann war Jude […].
Astrid Seele in der „Rhein-Neckar-Zeitung“, 16/17.08.2003
Der Theater- und Opernregisseur Hans Kaufmann gehört wohl nicht zu den ganz Großen seiner Profession, aber er verköperte jenen Typus des gebildeten, verantwortungsbewussten und engagierten Bürgers, auf den keine Kultur verzichten kann, die eine bleiben will. Es gab bekanntlich eine Zeit, da die Deutschen entschlossen waren, darauf zu verzichten, auf Kultur – und auf Menschen wie Hans Kaufmann. Dass wir nun seine sorgsam rekonstruierte Lebensgeschichte erfahren, verdanken wir dem Latinisten Manfred Fuhrmann und einem biografischen Zufall: Fuhrmanns Eltern waren mit Kaufmann befreundet, und sie gaben dem von den Nazis Verfolgten Unterschlupf, bis ein eher geistesschwacher als wirklich bösartiger Denunziant die Sache auffliegen ließ. Allein die Schilderung dieses Vorgangs ist ebenso spannend wie bedrückend.
Kaufmann, 1876 in Berlin geboren, lernte bei Otto Brahm am Deutschen Theater, war Regisseur am Schillertheater, dann am Deutschen Opernhaus in Charlottenburg, 1920 bis 1925 Intendant in Braunschweig, bis 1931 Intendant in Bern. Dort kündigte er wegen eines konzeptionellen Streits und ging zurück nach Deutschland – ein Fehler, dessen fürchterliche Tragweite ihm sehr schnell, aber zu spät klar wurde. Er überlebte "die Hölle von Theresienstadt" (Kaufmann), war für eine kurze und schäbig beendete Zeit Intendant in Detmold und kämpfte vergeblich um eine Entschädigung. Im Deutschen Schauspielhaus zu Hamburg, das ihn zuletzt beschäftigt und wegen seiner jüdischen Herkunft gekündigt hatte, waren die entsprechenden Unterlagen rechtzeitig vernichtet worden, sodass ein zuständiger Regierungsdirektor frech behaupten konnte: "Ob der Grund für sein vorzeitiges Ausscheiden darin zu erblicken ist, dass Herr K Nichtarier ist, lässt sich heute mit Sicherheit nicht sagen." So im Ablehnungsbescheid von 1952. Nichtarier! Und dies zu einem Überlebenden des Holocaust. Das waren die fünfziger Jahre.
Von solch bösen, aber lakonisch erzählten und historisch genau belegten Pointen ist Fuhrmanns Büchlein voll. Es ist ein Zeugnis der Sühne: damit Hans Kaufmann nicht vergessen werde. "Ein unendlich fleißiger und anscheinenend unbeirrbar wohlgesonnener, gutwilliger Mensch muß sich gegen eine unbehebbare Benachteiligung, gegen eine alle persönliche Fassungskraft übersteigende, weil historische Gemeinheit wehren." So Martin Walser in seinem Geleitwort.
Ulrich Greiner in der "Zeit" vom 30.10.2003
Dem Autor gelingt in diesem schmalen Band Mehrfaches: Ein präziser und höchst informativer Einblick in die Welt des Theaters und der Oper der wilhelminischen und der Weimarer Zeit; dies verbunden mit genauen Angaben über Kaufmanns Bildungsweg, einer aufschlussreichen Facette deutscher Bildungsgeschichte; eine bedrückende Fallstudie über die Eliminierung jüdischer Intelligenz und jüdischen Lebens durch die Nazis (oder das, was die Nazis für jüdisch erklärten), auch wenn Hans Kaufmann nicht das Allerschlimmste widerfuhr. Einen besonders fahlen Nachgeschmack hinterlässt jedoch die Schilderung der Nachkriegszeit: Hans Kaufmann übernahm die Leitung des neu gegründeten Detmolder Theaters, doch die alten Seilschaften waren noch so intakt, dass der ehemalige und zu Kriegszeiten amtierende Intendant, ein NS-Aktivist, sich wieder ins Amt intrigieren konnte. Hans Kaufmann blieb nur noch, einen demütigenden Kampf um seine Altersversorgung mit den Behörden führen zu müssen.
Peter Conzelmann im "Südkurier", 19.1.2004
[...] Sein allerletztes selbständiges Buch widmete Fuhrmann dem jüdischen Theaterregisseur Hans Kaufmann, den seine Familie im Zweiten Weltkrieg eine Zeit lang unter Lebensgefahr versteckt hatte, und dessen Vita perfekte Bildungsbürgerlichkeit mit den schlimmsten Katastrophenerfahrungen des Jahrhunderts vereinte; vielleicht wird die Nachwelt in diesem [...] Text einmal einen Schlüssel zu Fuhrmanns überragender Leistung erkennen.
Gustav Seibt in seinem Nachruf auf unseren am 12.01.2005 in seinem 80. Lebensjahr verstorbenen Autor Manfred Fuhrmann und seine letzte Buchveröffentlichung (in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 14.01.2005)
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