Die germanistische Literaturwissenschaft der sechziger und siebziger Jahre - aus heutiger Sicht scheint sie nah und fern zugleich. Noch immer scheiden sich an ihr die Geister, noch immer ist sie Gegenstand nostalgischer Verklärungen oder ressentimentgeladener Verdikte. Jenseits solcher Bekenntnisse erweist sie sich als eine von Widersprüchen gekennzeichnete Übergangsphase der Germanistik: zwischen einer weitgehend entwerteten Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft.
Oliver Sill
Kein Ende und ein Anfang
Germanistische Literaturwissenschaft der sechziger und siebziger Jahre
AISTHESIS Essay 15
2003
136 Seiten
kartoniert
ISBN 3-89528-423-8
Oliver Sill, geb. 1957, PD Dr. phil., studierte Germanistik, Geschichte und Erziehungswissenschaft in Münster. Promotion 1990 mit einer Arbeit über autobiographisches Erzählen im 20. Jahrhundert (Zerbrochene Spiegel. Berlin/New York: de Gruyter 1991). Seine Habilitationsschrift Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft ist 2001 im Westdeutschen Verlag erschienen. Im Aisthesis Verlag liegt vor: Der Kreis des Lesens. Eine Wanderung durch die europäische Moderne (2001).
Siehe auch die Webseite von Oliver Sill: www.oliversill.de
Ein Gespenst geht um in den Literaturwissenschaften: die Intertextualität, oder, um mit dem ersten Satz aus O. Sills Essaysammlung zu antworten: »Literarische Texte beziehen sich aufeinander.« Daß es sich hierbei durchaus um mehr denn ein neues Paradigma, um mehr als eine vorübergehende Modeerscheinung der methodengebeutelten Philologien handeln kann, beweisen Sills kluge Beobachtungen zu Texten etwa von W. G. Sebald, B. Vanderbeke, H. Müller oder B. Kronauer, die der Leser Sill auf andere kanonische ebenso wie diskreditierte Texte (z. B. Höß' autobiographische Aufzeichnungen im Vergleich zu I. Kertesz' Roman eines Schicksallosen) zu beziehen weiß und – textnah ohne sich den jeweiligen Texten dabei bloß anzuverwandeln – miteinander ins Gespräch zu bringen versteht. Literatur – damit steht er in bester Tradition – ist ihm ein Spiel (vgl. 225), in dem bestenfalls die (soziale) Zeitordnung ihre Geltung und Gültigkeit einbüßt. Das Lesen, so Sill in seinem Nachwort, gleicht einer Wanderung, auf der man der »voranschreitenden Zeit für eine Weile« entkommen kann (vgl. 239), um schließlich auf neue Wahrnehmungsangebote (wie es bei S. J. Schmidt heißt) zu stoßen.
Werner Jung in 'Germanistik', H. 3/4, 2001