Allert, Tilman: Der Mund ist aufgegangen

Artikel-Nr.: 978-3-8498-1301-7

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Marcel Proust hat der Madeleine ein literarisches Denkmal gesetzt, Günther Grass die »Ahoj«-Brause in der »Blechtrommel« verewigt. Doch wer feiert heute noch den süßen Schmerz, den der Genuss eines Himbeerbonbons verursachte, wer erinnert sich an das Lässigkeitsversprechen des Kaugummis, dem heimlichen Verbündeten der Reeducation, wer gedenkt noch der giftgrünen Verheißung der »Götterspeise«? Mit diesen überaus amüsanten Capriccios, in denen hie und da etwas Wehmut aufscheint, lässt Tilman Allert die Geschmäcker einer Kindheit in den frühen Jahren der Bundesrepublik aufleben: wie ein vorsorglich in der Hosentasche verstautes »Vivil« über die Befangenheit vor dem ersten Kuss hinweghalf, was der verlockend leuchtende Liebesapfel seinem Esser an Geschicklichkeit abverlangte, welcher Zungenakrobatik es bedurfte, um die Hostie vom Gaumen zu lösen und wie ein Kamillendampfbad dem Kranken alle Sinne gleichermaßen vernebelte - einfach unwiderstehlich und höchst amüsant.

Allert ist der Sohn eines muslimischen Arztes aus Aserbaidschan, der mit 21 Jahren nach Deutschland kam. Jener war, so der Autor, ein großer orientalischer Erzähler, dem die Kinder wie gebannt an den Lippen hingen. Nun tritt der Sohn in ebensolche Fußstapfen. Nach etlichen fachwissenschaftlichen Publikationen gewinnt Allerts Hang zum lustvollen Fabulieren zunehmend die Oberhand. Seine feuilletonistischen Ausflüge erscheinen regelmäßig in der FAZ, der Neuen Zürcher Zeitung oder der „WELT“. Eine Sammlung seiner blumigsten Abschweifungen erschien 2015 unter dem Titel „Latte Macchiato“.

In seinem neuen Opus „Der Mund ist aufgegangen. Vom Geschmack der Kindheit“ verfolgt Allert Spuren, die er schon im „Latte Macchiatto“-Buch ausgelegt hatte, weiter. Unter Kapitelüberschriften wie „Süßer Schmerz“, „Verborgene Kräfte“ oder „Not und Pein“ geht es etwa um die vielen „Kleinigkeiten“, denen unauslöschlich der Geschmack einer Nachkriegskindheit anhaftet.

Der „Anhauch“ der Kindheit und Jugend erschließt sich, wie der Leser kopfnickend bestätigt, über nichts so sehr wie über den Mund: Allert: „Er gehört zu den ersten Instanzen, die die Welt der Erscheinungen erschließen. Tastend und schmeckend lässt er sich auf ihre Verführungen ein. Die Liebe zum Draußen, sie entsteht in der Höhle des Mundes: eine Erkundungsstation in Gaumen und Rachen. ... Der Mund eröffnet Duft und Geschmack einen Raum, er erfährt Mut wie Vorsicht, Schönes und irritierend Verwunderliches und das alles in einer Lebensphase, in der das Ich von seinem Vermögen und Verlangen noch gar nichts weiß - bis auf die gefühlte Zuversicht, dass es im Draußen etwas zu entdecken gibt, das wie eine Erweiterung des Drinnen daherkommt.“

Nostalgie at its best, möchte man zusammenfassen. Und ganz ohne jeden klebrigen Beigeschmack. Einfach schön! Eine Prosa also, bei der einem das Wasser im Munde zusammenläuft.

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